Unliebsame Völkerschaften

Eine Denkschrift zur Lage der Russlanddeutschen

Nur ein Menschenleben trennt heutige Russlanddeutsche von der Zeit des großen Terrors, den Eltern und Großeltern erlitten haben. Die Zahl der Zeitzeugen nimmt von Jahr zu Jahr ab. Auch nach 70 Jahren ist die Debatte um Wiedergutmachung und Gleichbehandlung noch nicht ausgestanden.

Berlin, im August 2011 - 28. August 1941: Zum 70. Jahrestag des Erlasses, der die Deportation der deutschen Minderheit in der Sowjetunion und Jahrzehnte der Entrechtung eingeleitet hat, legt der Heidelberger Historiker Viktor Krieger eine Denkschrift vor. Darin skizziert er historische Hintergründe, den Kampf um Bürgerrechte und Gleichberechtigung, die Bewegung zur Wiederherstellung der  Wolgarepublik, die heutige Lage der deutschen Minderheit in Russland und von Aussiedlern in Deutschland. Ornis stellt den Text zur Debatte. Hier einige Thesen zur Denkschrift:

Problem: Benachteiligung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen

viktor_krieger

Viktor Krieger wurde 1959 in Dschambul/ Kasachstan geboren und siedelte 1991 nach Deutschland aus. Er ist Lehrbeauftragter am Seminar für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg. Seit den achtziger Jahren beschäftigt er sich mit der Politik-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Deutschen in Russland.

Als Titularnationen mit eigenem Territorium verfügen Kalmücken, Jakuten oder Burjaten über wesentlich mehr Möglichkeiten, ihren legitimen wirtschaftlichen, politischen oder sprachlich-kulturellen Forderungen Gehör zu verschaffen - durch ihre Vertreter und Abgeordnete in Moskau ebenso wie  auf lokaler Ebene - als die zwar zahlenmäßig größere, aber verstreut lebende deutsche Minderheit ohne Territorium.

kirche_saratowSelbst das ehemalige Zentralarchiv der Wolgarepublik in Engels konnte im Jahre 2004 nur dank kräftiger Unterstützung durch die deutsche Bundesregierung erweitert und das Schriftgut vor Vernichtung gerettet werden. Als ob russländische Bürger deutscher Herkunft (597.212 Personen) weniger Steuern zahlen als etwa russländische Bürger kalmückischer (173.996), jakutischer (443.852) oder burjatischer Herkunft (445.175).

Diese Völker verfügen über ein muttersprachliches Bildungs-, Zeitungs-, Verlags-, Funk- und Fernsehwesen, über nationale Museen und Archive, Opernhäuser, Forschungsinstitute der nationalen Geschichte und Kultur, über Denkmalpflege, professionelle Theater und Tanzgruppen, nationale Universitäten und Hochschulen. Diese Institutionen werden dauerhaft finanziert und weiter ausgebaut, ohne auf ausländische Hilfe oder zeitweilige Sonderprogramme angewiesen zu sein.

Derartige Einrichtungen, die für Bildung, Kultur und Identität von Bedeutung sind, kommen der deutschen Minderheit nicht zugute. Die Folgen sind geringe Kenntnisse der deutschen Sprache, unterdurchschnittlicher Bildungsstand und Urbanisierungsgrad sowie eingeschränkte soziale Mobilität.

Problem: Kriegsfolgenbereinigungsgesetz

stuertzt_den_faschismusDurch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz, das am 1. Januar 1993 die Rechtsgrundlage zur Aufnahme von Personen deutscher Herkunft aus den Ländern der GUS und anderen osteuropäischen Staaten bildete, wurde der Kreis potentiell Berechtigter stark eingeschränkt. Demnach dürfen Personen, die nach dem 1. Januar 1993 geboren wurden, nicht „aus eigenem Recht das Aufnahmeverfahren einleiten“. Juristen sehen darin einen möglichen Verfassungsbruch, da der Gesetzgeber eine derartige Beendigung des (Spät-)Aussiedlerzuzugs erklärt hat, die „dem Wortlaut des Art. 116, Abs. 1 des Grundgesetzes nicht zu entnehmen ist".

Bei der Feststellung der Aussiedler-Voraussetzungen sollte endlich von den im Falle der Russlanddeutschen überholten abstammungs-sprachlich-kulturellen Definitionen des „Deutschseins“ abgesehen und zu dem einzig angemessenen Kriterium des Kriegsfolgenschicksals übergegangen werden: dem Faktum der Verfolgung und Diskriminierung als Person deutscher Herkunft. Wenn der Antragsteller persönlich, seine Eltern oder Großeltern direkte Opfer ethnischer Repressionen und Benachteiligungen waren, dann muss dem Betroffenen ein grundsätzlicher Anspruch auf Aufnahme in Deutschland zustehen.

Problem: Fehlende Gleichbehandlung

Kollektivrechte einer Minderheit sind von den individuellen Bürgerrechten ihrer Angehörigen nicht zu trennen. Wenn eine nationale, religiöse oder soziale Gemeinschaft in ihrer existenziellen Rechten – in unserem Fall geht es um die Wiederherstellung der territorialen Autonomie – gegenüber anderen Gruppen benachteiligt wird, dann hat es unmittelbare Auswirkungen auf die  verfassungsmäßigen Grundrechte, auf persönliche Entfaltungsmöglichkeiten.

Das Beispiel der deutschen Minderheit in der einstigen Sowjetunion und im heutigen Russland spiegelt diese enge Verzahnung eindrucksvoll. Solange in Russland die rechtswidrig aufgelöste Wolgarepublik nicht wiederhergestellt und die russlanddeutsche Minderheit nicht die gleichen Rechte wie die übrigen Nationalitäten bekommt, sollten die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe einen grundsätzlichen Anspruch auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland haben.

Problem: Der so genannte Befreiungserlass

Im „Befreiungserlass“ von 13. Dezember 1955 ist unmissverständlich festgehalten, dass die Verbannten „nicht das Recht haben, an die Orte zurückzukehren“, aus denen sie ausgesiedelt worden waren. Außerdem hieß es in dem Erlass, dass die Aufhebung ihres Status‘ als Sondersiedler nicht „die Rückgabe des Vermögens, das bei der Verschickung konfisziert worden ist“, nach sich ziehe. Dass es auch anders gehen konnte, bewies der Umgang mit anderen ebenfalls deportierten und verleumdeten Nationalitäten, wie den Tschetschenen, Kalmücken, Balkaren, Karatschaen und Inguschen.

russlanddeutsche_kalmueckische_zwangsarbeiterIm November 1956 entschied die Parteispitze, die territorialen Autonomien dieser Völker wiederherzustellen, mit der bemerkenswerten Begründung: Die bereits unternommenen Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung und gesellschaftlichen Eingliederung seien noch nicht ausreichend, „weil sie die Aufgabe der vollständigen Rehabilitierung der grundlos zwangsausgesiedelten Völker und die Wiederherstellung ihrer Gleichberechtigung unter den anderen Nationen der Sowjetunion nicht lösen.“

Problem: Abwendung von Staat und Gesellschaft

Die dagegen restriktive Haltung der Sowjetführung gegenüber der deutschen Minderheit führte bei einem Großteil der Russlanddeutschen zu Resignation, manche suchten Zuflucht in religiösen Gemeinschaften oder zogen sich ins Private zurück. Zudem leitete die staatliche Verweigerungshaltung einen weitreichenden Gesinnungswandel der deutschen Minderheit von durchaus loyalen Sowjetbürgern zu potenziellen Emigranten ein.

Exemplarisch ist diese erzwungene Abwendung in einer Untergrundschrift aus dem Jahr 1973 mit dem bezeichnenden Titel „Von dem Gedanken über die Autonomie zum Gedanken über die Emigration“ beschrieben worden, der den sarkastischen Untertitel „Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Karl Marx“ trug.

Problem: Nationalkulturelle Autonomie

Ein weiterer Versuch, die grundlegende Wiedergutmachung zu vermeiden, stellte das Konzept der nationalkulturellen Autonomie dar, das von staatlicher Seite in Russland als „Garantie für die national-kulturelle Selbstbestimmung“ gepriesen wurde. Das entsprechende Gesetz trat im Juli 1996 in Kraft und sollte die „territoriale Fixierung“ bei der Lösung der aktuellen und künftigen Nationalitätenprobleme überwinden.

deputiertenbillettWie dies allerdings in Russlands verwirklicht werden sollte, wonach allein die territorialen Verwaltungseinheiten (Republiken, Gebiete und Regionen) die volle politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Gestaltungskraft besitzen, blieb der Gesetzgeber schuldig. So wurde am 20. Dezember 1997 die „Föderale national-kulturelle Autonomie der Russlanddeutschen“ vom Justizministerium registriert.

Ihr Status als öffentlich-rechtlicher Personenverband ohne verbindliche staatliche Finanzierungszusagen und ohne politische Mitspracherechte entsprach faktisch dem Niveau eines eingetragenen Vereins, dem die Rolle eines Bittstellers für zeitlich begrenzte Projekte zufällt.

Problem: Nationale Rayons und Kultur-Folklore

Ob die beiden administrativen Rayons – der deutsche Landkreis Halbstadt im Altai und Asowo unweit von Omsk - mit der erdrückenden Dominanz des landwirtschaftlichen Sektors und fehlenden politischen Interessenvertretungen, mit kaum wahrnehmbaren sozioökonomischen Gestaltungsmöglichkeiten und einer archaisch wirkenden Folklorisierung des kulturellen Lebens eine wirkliche Zukunftsperspektive für die bereits mehrheitlich in Städten lebenden Russlanddeutschen aufweisen können, darf getrost bezweifelt werden.

Problem: Historisch auf einem Auge blind

Großes Befremden löste die Feststellung im gemeinsamen Kommuniqué der jüngsten Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission für die Angelegenheit der Russlanddeutschen im westsibirischen Tomsk im Mai 2011 aus:

„Dabei plädieren die beiden Seiten für einen ehrlichen und verantwortungsvollen Blick auf die Ereignisse vor 70 Jahren. Die Deportation der sowjetischen Deutschen muss in einem historischen Kontext als Folge des Angriffs und der Besetzung der Gebiete der UdSSR durch Hitler-Deutschland betrachtet werden.“

Hier werden Ursachen, Folgen und Anlässe durcheinander gebracht. Wie sollten denn dann die Deportationen der koreanischen Minderheit im Jahre 1937, die Verschleppung von Kalmücken, Tschetschenen oder Krimtataren 1943-44 zu erklären sein? Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung, die sich vor allem auf Vorarbeiten russischer Historiker und Archivare stützen, sind übereinstimmend: für das Stalinregime war der Angriff von Hitler-Deutschland ein willkommener Anlass, sich einiger unliebsamer Völkerschaften zu entledigen.

Auch das Gesetz der Russländischen Föderation aus dem Jahr 1991 „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ spricht eindeutig von der „Politik der Willkür und Gesetzlosigkeit“ der damaligen sowjetischen Staatsführung, die zu Zwangsaussiedlungen zahlreicher Volksgruppen in den 1930er-40er Jahren führte.

Quelle: www.ornis-press.de

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