Russland, deine Deutschen

Das 20. Jh. übertraf alle Jahrhunderte davor in der Anzahl und dem Ausmaß politischer Kataklysmen, Bürger- und internationaler Kriege. Dementsprechend hoch ist auch die Zahl der menschlichen Opfer, einschließlich der aus politischen Motiven Getöteten. Zu den Völkern, die große Verluste in diesem äußerst brutalen Jahrhundert davontrugen, sind eindeutig auch die Deutschen aus Russland zu zählen. In den letzten 30 Jahren des 19. Jh. begann die Beschneidung ihrer politischen, wirtschaftlichen und religiösen Rechte, was vor allem damit zusammenhing, dass anstelle mehrerer deutscher Splitterstaaten ein Deutsches Reich gegründet wurde, das von der politischen Elite Russlands als potenzieller Feind gesehen wurde.

Russland, deine DeutscheIm 20. Jh. standen sich Deutschland und Russland in zwei Weltkriegen als Feinde gegenüber. Und wenn nach dem ersten Weltkrieg infolge der Umstände beide Länder in der großen Politik wie aussätzige behandelt wurden, was sie in den 20-ger Jahren zu einer Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil zwang, die andauerte bis Hitler an die Macht kam, so haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit dem bedingungslosen Sieg der Sowjetunion und ihrer Verbündeten über Deutschland endete, die Umstände grundlegend geändert.
Das Wort „Nemez“ wurde in der UdSSR nun mit dem Wort „Feind“ assoziiert.

… Ein Versuch, die Deutschen aus dem europäischen Teil Russlands in den asiatischen zu deportieren, war bereits in den Jahren des Ersten Weltkrieges unternommen worden. Aber da die Zeit und die Ressourcen knapp waren, scheiterte dieses Vorhaben. Die Provisorische Regierung, die im März 1917 an die Macht kam, hob die diskriminierenden Gesetze der Zarenzeit auf.

Ganz anders entwickelten sich die Verhältnisse in den Jahren 1941-1945, nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion. In den ersten Monaten des Krieges wurden alle Deutschen, die man seit 1926 Sowjetdeutsche nannte, aus dem europäischen Teil des Landes zwangsweise nach Sibirien, Kasachstan und Zentralasien deportiert. Verschont blieben nur die Deutschen der Sowjetunion, die in den von Deutschland besetzten Gebieten lebten, aber auch sie teilten das Schicksal der meisten ihrer Landsleute und wurden nach dem Kriegsende hauptsächlich in den nördlichen Teil Russlands repatriiert.

Der überwiegende Teil der arbeitsfähigen Deutschen in der Sowjetunion, Männer wie Frauen, wurde für Arbeitskolonnen mobilisiert, die den Namen „Arbeitsarmee“ bekamen und in denen mehr als ein Drittel der dort tätigen Deutschen aufgrund der schweren Arbeit und des Hungers ums Leben kamen.

Für die Historiker der Sowjetzeit war das Thema der Arbeitsarmee, wie auch die gesamte Geschichte der deportierten Völker, bis zur Zeit der Perestroika Tabu. Wenn einzelne es wagte, diese Thema zu erwähnen, so nur unter dem Vorbehalt, dass die Russen, Ukrainer, Weißrussen und Vertreter anderer Nationen an der Front nicht weniger Verluste hinzunehmen und nicht weniger gelitten hatten als diejenigen, die in der Arbeitsarmee ums Leben kamen.

Die Geschichte des Krieges, wie auch die gesamte Geschichte der Sowjetzeit, wurde in der sowjetischen Geschichtsschreibung in all den Jahren verfälscht, beschönigt, heroisiert und die negativen Seiten verschwiegen. Diese hielt man für unwesentlich, denn die Sowjetmacht und die Kommunistische Partei dachten immer in globalen Kategorien. Nicht umsonst enthielt das Wappen der UdSSR als Emblem unter dem strahlenden roten Stern Hammer und Sichel in gekreuzter Form, die über der gesamten Erdkugel hingen, sodass dem Volk nur eine Opferrolle blieb.

… In der zweiten Hälfte der 1950-ger Jahre, nach Stalins Tod, erhielten die von Repressalien betroffenen Völker die Erlaubnis, in ihre Heimatorte zurückzukehren, und auch die autonomem Gebiete wurden wiederhergestellt, nur den Sowjetdeutschen und den Krimtataren wurde keine Möglichkeit gegeben, ihre autonomen Gebiete wiederherzustellen.

Es war streng verboten, in Massenmedien und literarischen Werken über die Probleme der Deutschen im Land zu berichten.
… Erst 1989 erkannte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR in seiner Erklärung die Repressalien gegenüber den zwangsweise umgesiedelten Völkern als „gesetzwidrig“ und „verbrecherisch“ an.
… Das Verhältnis der Sowjetmacht zur eigenen deutschen Bevölkerung widerspiegelt sich in den verschiedenen Ausgaben der sowjetischen Enzyklopädien. Im Band 41 der ersten Ausgabe der „Großen Sowjetischen Enzyklopädie“ (1939) finden wir ziemlich inhaltsreiches Material über die deutschen Kolonisten in Russland und die ASSR der Wolgadeutschen (mit einer Fläche von 28.000 Quadratkilometern fast so groß wie Belgien). In der zweiten Ausgabe der „Großen Sowjetischen Enzyklopädie“ (1950-1958) werden die Deutschen in Russland und in der Sowjetunion gar nicht erwähnt. Sogar im Abschlussband „Die UdSSR“ (1957), im Abschnitt „Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der Sowjetunion“ findet man kein Wort über die Deutschen in der Sowjetunion.

Im Beitrag „Die Sprachen der Völker der UdSSR“ gibt es Folgendes zu lesen: Zu den germanischen Sprachen gehört Jiddisch – die Sprache eines bestimmten Teils der jüdischen Bevölkerung in der UdSSR“. Und wieder kein Wort darüber, dass die wichtigsten Muttersprachler einer germanischen Sprache in der UdSSR die Deutschen sind.

… Die dritte Ausgabe der „Kleinen Sowjetischen Enzyklopädie“ (1958-1960) fällt in die Tauwetterperiode zur Regierungszeit Chruschtschows, aber im fünften Band,.. findet man nun gar keine Information über die Sowjetdeutschen. Und erst im Band 8 im Beitrag „Nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der UdSSR“ wird berichtet, dass nach Angaben der Volkszählung im Januar 1958 1.620.000 Deutsche im Lande lebten (zeitweise lebten im Russischen Imperium bis 4 Mio. Deutsche – Red.).

Die Bundesrepublik Deutschland galt lange Zeit als einer der wichtigsten potenziellen Gegner der Sowjetunion. Und das Feindbild des Deutschen wurde von den ideologischen Funktionären der KPdSU hartnäckig auf die eigenen deutschen Mitbürger projiziert. Der Beitrag der Russlanddeutschen zur Entwickling der Staatlichkeit, der Wirtschaft und der Kultur Russlands wurde hartnäckig verschwiegen, wohingegen die negativen Momente, die es in der Geschichte des gegenseitigen Verhältnisses zwischen den Russlanddeutschen und der russischen Gesellschaft gegeben hatte, mit allen Mitteln betont wurden und den Deutschen dafür stets die Verantwortung zugeschoben wurde. Erst in der Zeit der Perestroika unter Gorbatschow bekam man die Möglichkeit, Arbeiten über die Geschichte der Russlanddeutschen zu veröffentlichen.

Da die überwiegende Mehrheit der Rußlanddeutschen nach Deutschland auswanderte, verlagerte sich die Forschung natürlich hierher. Es sei an dieser Stelle auch angemerkt, dass in der Bundesrepublik Deutschland, im Unterschied zu der DDR, schon immer Interesse an der Geschichte der Landsleute in Rußland und der UdSSR bestanden hatte und solide Werke zu dieser Thematik erschienen waren.Unter den Autoren sind vor allem folgende Namen zu nennen: A. Eisfeld, E. Amburger, H. Boockmann, A. Bosch, W. Buchholz, D. Dahlmann, A. Suppan, N. Konrads, G. Pistohlkors, F. Prinz, I. Röskau-Rydel, J. Rogall, L. Sievers, G. Schödl, J. Schnurr, E. Stockel, T. Stricker.

Auch in Russland setzte man die Forschung zur Geschichte der Russlanddeutschen fort, doch in der letzten Zeit haben die russischen Behörden begonnen, die Erforschung der Periode des Stalinismus zu behindern, in der es die meisten Opfer unter den sowjetischen Deutschen gegeben hatte. So wurde zum Beispielgegen den Leiter des Lehrstuhls für die Geschichte Russlands der Pomorischen Staatlichen Universität in Archangelsk, Alexander Dudarew, die das gemeinsame russisch-deutsche Projekt „Die in den 1940er-Jahren Repressalien ausgesetzten ethnischen Deutschen“ betreiben, wegen des Vorwurfs der „Sammlung und Verbreitung von vertraulichen und persönlichen Informationen“ ein Strafverfahren eingeleitet.
Die FSB-Verwaltung des Gebiets Archangelsk verhaftete Dudarew und Suprun sowie eine Aspirantin des Letzteren. In Ihren Privathäusern und auf ihren Arbeitsstellen fanden Durchsuchungen statt, Archive, Computer und andere elektronische Informationsträger sowie die Dokumente zur russischen Geschichte, die Professor Suprun 1999 aus den Archiven der USA und Westeuropas mitgebracht hatte, wurden beschlagnahmt.

Die oben dargelegten Umstände brachten eine Gruppe von Deutschen aus Russland, Mitglieder des Hamburger Vereins der Deutschen aus Russland, dazu, den Vorschlag des Vereinsvorsitzenden Gottlieb Krune anzunehmen und mit der Arbeit am vorliegenden Buch zu beginnen, das unserer Meinung nach zu einer objektiven Bewertung der Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert beitragen soll.

uafaneHilfe für die Ukraine

Die Stadt Leipzig bereitet sich auf die Ankunft von Menschen vor, die vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ihre Heimat verlassen müssen. Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft wird die Hilfe für Menschen auf der Flucht ebenso wie für die Menschen in der Ukraine organisiert und koordiniert.

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