Rosa ist die ältere Tochter von Jakob Derksen aus der Ukraine und Hermina Schandr von der Wolga, die sich in ihrem Verbannungsort Urussu (Tatarien) trafen.
Rosa erinnert sich gern: »Mein Vater spielte ziemlich gut Akkordeon und Mundharmonika, nicht nach Noten, sondern nach Gefühl und zur Freude aller. Die Schallplatten mit den deutschen Schlagern und Volksliedern, seine »Heiligtümer«, legte er ganz vorsichtig auf, lauschte der Musik und weinte, vertieft in seine Welt – sein Glück und seinen Schmerz.
Alle in unserer Familie hat Gott mit gutem musikalischem Gehör und Stimmen beschenkt. Ich vergesse nie die Stunden, in denen wir, die Töchter, mehrstimmig dem lieben Elterngesang beimischen dürften.“
Peter ist der jüngere Sohn von Alexander Wegelin aus der Ukraine und Monika Mack aus der deutschen Siedlung nicht weit von Tscheljabinsk (Ural). Sie trafen sich in der Trudarmee in Orsk (Südural). In seiner freien Zeit spielte der Vater sehr gut Gitarre, organisierte ein Laienorchester in Nowo-Alexandrowka. Die Mutter kannte eine Unmenge von Liedern und versüßte sich und den Nächsten das damals unerhört schwere Leben mit ihrem schönen Gesang.
Das Schicksal der Deutschen in Russland und die Liebe zur Musik haben viel im Leben von Rosa und Peter bestimmt. Vielleicht brachte genau dieser Umstand unsere Familien näher zueinander.
Frühling 1989: ich eile nach dem Unterricht vom 1. Stock der Schule zum Lehrerzimmer, muss aber plötzlich stehen bleiben. Im Schulfoyer flaniert ein junger Mann, der mich verschwommen, wie im Nebel, an jemanden aus meiner Kindheit erinnert. Mein Gedächtnis durchstöbert rasch meine Kinderjahre, und da kommen ganz deutlich die Bilder aus meiner geliebten Schulzeit in Nowo-Alexandrowka - meine Schule mit breiten Fluren, geräumigen Klassenzimmern, großen sonnendurchfluteten Fenstern; der riesige Sportplatz mit dem Schülerappell in weiß-roten festlichen Farben von gründlich gebügelten weißen Schürzen über den braunen Kleidern der Mädchen, deren Köpfe Schleifen säumen, als ob gigantische weiße Schmetterlinge sich eine Weile auf ihnen ausruhten; weiße Hemden der Jungs, und fast alle mit dem roten Halstuch der jungen Pioniere der Sowjetunion.
Musikstücke aus dem Album
»Der rote Sarafan«
1998
Cello - Alexsander Wegelin
Clavier - Rosa Wegelin
Akkordeon - Peter Wegelin
Anna und Alexander Wegelin
Anna und Alexander Wegelin
Aus dem sonnigen farbigen Gewimmel lösen sich zwei Jungs – etwas rundlich, rotwangig, schwarzhaarig, hübsch – mit großen Akkordeons an den Schultern. Es sind die Brüder Wegelin – Alexander (der Ältere) und Peter (der Jüngere). Der Frühlingswind trägt über dem kleinen Schulvolk in die weite Ferne die Melodien, die die flinken Finger der jungen Musikanten den Instrumenten entlocken. Wir lauschen fast erstarrt, vor Angst dieses Wunder zu zerstören. Ach wie waren wir stolz, mit diesen Jungs in einer Schule zu lernen! Es waren „unsere“ Brüder Wegelin, unsere Musikanten.
Es sind fast 50 Jahre seit diesen Tagen verflossen. Im Schulflur sehe ich wieder vor mir den jüngeren Wegelin – den Peter. Ich berühre seinen Arm und erkläre ihm, wer ich bin. Die Überraschung ist groß. Meine Neugier ist auch nicht klein: was führt ihn in unser Dorf, in unsere Schule?
Peter stellt mich seiner Frau Rosa vor, mit der er drei Kinder hat und erzählt von ihrem Vorhaben.
Die fleißigen und freundlichen Bauern haben es immer wieder, auch nach den schwierigsten Jahren des Krieges, geschafft, die Siedlung (später genannt Kolchos »Rossia«) auf den Fordermann zu bringen und immer ein Beispiel der tüchtigen Arbeit auf den Äckern und in der Viehzucht in der ganzen Republik zu sein. Jetzt sind fast alle in Deutschland, zerstreut in allen deutschen Landen.
Von diesem Tag an sind die Wegelins mit uns - die begnadeten Hochschulpädagogen kommen jede Woche zweimal bei jedem Wetter, oft mit den fünfjährigen Zwillingen im Gepäck, aus der 100-kilometer weit entfernten Stadt Ufa in unsere deutsche Siedlung, die Dorfkinder in Musik und Gesang zu unterrichten und an allen kulturellen Veranstaltungen im Dorf mitzuwirken.
Viele Abende nach der Arbeit proben wir gemeinsam in unserem Klub – singen, musizieren, diskutieren. Die älteren Mitstreiter aus unserem Folkloreensemble schütten ihre Herzen den neugierigen Städtern in deutschen Volksliedern aus, die sie von ihren Vorfahren erbten und sorgfältig aufbe-wahrten.
Im Sommer haben wir in Musik eingehüllte gemeinsame Ferien. Es ist immer eine große Freude in unserem Haus, wenn die Wegelins kommen. Das Haus ist voll mit Musik: alle Kinder, die Wegelins und die Gaußens, müssen der Reihe nach proben.
Unsere Kuh gibt plötzlich mehr Milch – vielleicht, weil die kleine Anna ihr Melodien von weltbekannten Komponisten (mit eigenen Texten allerdings) vorsingt, die sie am Vormittag mit ihrer Mutter einübte.
Die Kätzchen miauen und rennen an der großen Leiter hoch auf den Dachspeicher – so weit wie möglich von den unermüdlichen kleinen Betreuern, Anna und Alexander, weg, die sie ständig einwickeln wie Puppen in ein Tuch und auf den Armen einzuwiegen versuchen.
Ich höre Rosas leises Gespräch mit Margarita. Sie versucht die musikalisch sehr begabte ältere Tochter von der Notwendigkeit der täglichen Musikübungen zu überzeugen.
Peter bastelt sich einen Notenständer aus einem Holzklotz und versucht mit seinem Akkordeon in unser Kartoffelfeld hinter dem Haus den ganzen Turbulenzen auf dem Hof zu entkommen, um in Ruhe proben zu können.
An späten stillen Sommerabenden sitzen wir auf den Haustreppen, umhüllt vom warmen Duftnebel aus frischer Milch und Nachtveilchen, und es hallen in uns die Tageskonzerte auf unserem Hof wieder: Frieden und Ruhe kehren in die Herzen ein.
Wir proben, musizieren und füllen die Papiere für die Abreise nach Deutschland aus.
Im April 1991 zieht unsere Familie nach Deutschland. Wir kommen nach Leipzig.
Rosa und Peter machen bei jeder Veranstaltung der deutschen Volksgruppe in Ufa und in unserem Dorf auch weiter mit.
Der Zug aber ist nicht mehr aufzuhalten, und die Wegelins kommen im April 1992 nach Berlin. Vor der Abreise spricht der Leiter des deutschen Kulturzentrums »Einheit« Jakob Schmal Rosa und Peter einen Dank aus, den ich vollständig hier wiedergebe:
Sehr geehrtes Ehepaar Wegelin!
Im Namen des Vorstandes des deutschen Kulturzentrums »Einheit« sagen wir Ihnen unseren innigsten Dank für alles Gute und Schöne, was Sie in den vergangenen Jahren so freigebig und wohlwollend unserem notgeplagten Volk aus der Schatzkammer seiner nationalen Kultur immer wieder an Herz und Seele legten.
Ihr wart mit unter den allerersten, die sich nach einem halben Jahr-hundert erkühnten, sich endlich mal unter dem Stiefel der Willkür hervorzuschaffen, um zu zeigen, »dass wir hier sind, dass es uns nicht behalten hat«. Es ist nicht zu ermessen, was Sie für unser deutsches Kulturzentrum getan haben, um unseren Menschen ihr Gemüt zu erleichtern, ihnen bei Möglichkeiten Stunden der Zufriedenheit und Genugtuung zu gestalten.
Ihr Familienensemble ist uns allen nah und lieb, weil es »den Trieb zum Guten stets entfacht«, unsere Folklore so gekonnt und meisterhaft erhalten und gepflegt hat, sie damit immer wieder in Entzückung versetzte. Sie werden Ihrer dafür noch lange gedenken.
Nun wandern Sie »nach Deutschland hinüber«, in die Heimat unserer Urahnen. Für uns Hierbleibenden ist das ein großer Verlust. Sie werden von uns allen vermisst werden, uns unersetzlich fehlen. Unser einziger Trost ist, dass Sie auch drüben mit unter jenen sein werden, die sich um die eigenständige Kultur unseres Volkes sorgen, sie erblühen lassen werden. Wir wissen, - dies steckt in Ihnen, dies ist lobenswert.
Wir danken Ihnen für alles Gute, was Sie hier taten, umarmen Sie und sagen Ihnen »Auf Wiedersehen!«
Berlin. »Integration« – ein Wort oder Lebensaufgabe? Absolut keine Zeit nachzudenken. Vor allem die drei Kinder brauchen viel Zuwendung. Alles ist neu sowie in der allgemeinen als auch in der Musikschule. Die Gedanken über den eigenen Berufsweg bescheren viele schlaflose Nächte.
Aber auch in dieser Situation bleiben Rosa und Peter sich treu: sie gehen ihrem Beruf und der Berufung nach. Das erste Weihnachten in Deutschland – Rosa und Peter singen und spielen im Sprachkurs Weihnachts- und Volkslieder; 1994 gründet und leitet Rosa die Gesangsgruppe aus Aussiedlerkindern und -jugendlichen; Peter begleitet mit seinem Akkordeon Theater- und Kabarettstücke, spielt als Solist und virtuoser Begleiter in der Gruppe »Ja-ka-scha«; gleichzeitig gründen und leiten sie die russlanddeutsche Kindergesangsgruppe im Berliner Verein »Lyra« und eine Singgruppe der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland im Deutschlandhaus. Die ganze Familie Wegelin ist bei vielen Veranstaltungen in Berlin, Leipzig und anderen Städten Deutschlands dabei.
Eine Berliner Zeitung berichtet:
Es war der erste Auftritt vor Publikum der Familie Wegelin aus Ufa, der Stadt Rudolf Nurejews«. Mutter Rosa studierte dort Musik. Neun Jahre leitete sie einen professionellen Chor und arbeitete mit Kindern, zwanzig Jahre unterrichtete sie an der Fachhochschule für Kunst.
Vater Peter studierte ebenfalls in Ufa, Klavier und Akkordeon, und machte seinen Abschluss als Dirigent. Im Lauf seiner zwanzigjährigen Berufstätigkeit profilierte er sich als Konzertmusiker.
Die Zwillinge werden von der Mutter im Gesang ausgebildet. Anna lernt Geige spielen, Sascha bekommt Cello-Unterricht. Er war bereits zweimal Preisträger bei »Jugend musiziert«.
Die Wegelins sind musikalisch in der früheren UdSSR mit altem russischem und deutschem Liedgut aufgewachsen. Und so gestalteten Sie dann auch den Abend: zwei Teile, ein russischer und ein deutscher. Die Wegelins spielten und sangen fast ausschließlich alte Volkslieder, die heute kaum noch gesungen, gespielt oder gekannt werden.
Mutter Rosa hält das Heft fest in der Hand – charmant aber dominant. Nach mehreren Zugaben war das kleine Konzert beendet, der erste öffentliche Auftritt gelungen.
Wenn die Wegelins bei uns in Leipzig zu Besuch waren, gingen sie zuerst zur Thomaskirche, zu J. S. Bach. Eine innige Liebe, Ehrfurcht, Bewunderung zu diesem Komponisten begleitet das ganze Leben der Wegelins. Bei jeder Gelegenheit wird immer spaßhalber erwähnt, dass Rosa ihren Peter nur deswegen geheiratet hat, weil er so virtuos Bach spielte. Ich habe einmal selbst erlebt, wie zum 100-jährigen Jubiläum der Umsiedlung der Deutschen ins Orenburger Gebiet Hunderte von Zuhörern, viele mit Tränen in den Augen, stehend Peter für die Bachdarbietung applaudierten.
Die Liebe zu Bach sowie die Hoffnung auf Arbeit und die Aufnahme des Sohnes in den Cellokurs bei Prof. Weber an der Hochschule für Musik und Theater führten die Wegelins 1998 zu uns nach Leipzig.
Was ist Zufall? Und ist all das wirklich nur ein Zufall?
Der Chor des Kreisverbandes Leipzig des BdV Leipzig war verwaist. Sofort fiel mir Rosa ein - sie mit ihrer Erfahrung, ihrem großen Herzen könnte eine gute Chorleiterin für diese älteren, auch vom Schicksal hart geprüften Menschen, werden. So kam es auch.
Schon 13 Jahre leitet nun Rosa mit großem Erfolg den Leipziger BdV-Chor »Lied der Heimat«. Musikalisch wird sie von Peter begleitet.
Chor BdV
Europahymne
Chorleiterin - Rosa Wegelin
Der Chor ist inzwischen nicht nur in Leipzig, sondern landes- und bundesweit bekannt. Man kennt ihn auch in Polen und im Gebiet Kaliningrad.
Es ist nicht zu ermessen, wie viel unsere Freunde als Musiker in den Jahren für uns alle gemacht haben und machen.
Rosa und Peter, mit ihren sanften Gemütern und ihrem großen musikalischen Talent, haben vielen verholfen, die Sehnsucht nach wahrer Kunst zu stillen, sich in der Musik zu verwirklichen, in der Musik ihre Sorge zu vergessen und Kräfte darin zu schöpfen.
Unser alter Freund, ein begnadeter Schriftsteller, träumte immer öfter von den Jahren, in denen seine Finger noch flink die Saiten der Mandoline berührten. Immer öfter klangen in seinen Ohren die Melodien aus der Jugendzeit. Das erfuhr Peter. Bald danach hörte der Saal die zarten Töne der Mandoline, die sich in virtuoses Akkordeonspiel einflicht. Es spielte unser achtzigjähriger Freund im Duo mit Peter Variationen zu den Jugendmelodien.
Rosa und Peter gehören zu den Sprösslingen der damals jungen Russlanddeutschen, die sich in den Arbeitskolonnen während des Krieges, in ihren Verbannungsorten verliebten, Familien gründeten. Die Last des zugefügten Unrechts lag schwer auf den Herzen der Eltern. Stille, auch sich gegenüber oft verschwiegene Rebellion gegen diese Demütigung hat das ganze Leben der Väter und Mütter geprägt und wirkte sich auch auf die Kinder aus. Die Eltern haben ständig, jeder auf seine Art, für die Erhaltung ihrer nationalen Identität, wenn auch oft nicht öffentlich, gekämpft. Von ihren Träumen und der Hoffnung blieb mit den Jahren nur ein schmaler Pfad, der ihre Kinder zurück nach Deutschland führte. Hier angekommen, hört, nach der anfänglichen Euphorie, das Grübeln und Suchen aber nicht auf. Am besten drückte diesen seelischen Zustand H. Heine: »Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht...« Mit und in der Folklore aufgewachsen, scheint nun in Deutschland vieles unwiederbringlich zu verschwinden, weil oft verpönt. Trostlosigkeit überkommt einen dann.
In ein paar Tagen erfreut uns unser zwanzigster Frühling in Deutschland. In warmen Tagen erklingen wieder in unserem Garten alte deutsche und russische Lieder. Unsere große Freundesbande wird sich wieder die Sorgen von der Seele singen.
Und immer wieder wird Rosa staunen: Wie viele schöne Lieder es doch gibt!
Und wir werden immer wieder Peter bitten: Spiel doch noch etwas!
Anna GAUß