Psycho-Revolution

Psycho-RevolutionNeustart für die Diagnosen der Psychiatrie

Zwanghafte, dissoziale oder paranoide Persönlichkeit – das sind gängige Diagnosen der Psychiatrie. Kritiker sagen: Es sind Schubladen, in die Patienten nicht wirklich passen. Das überarbeitete Handbuch will Persönlichkeitsstörungen in Zukunft differenziert erfassen – und streicht Narzissmus aus dem Katalog.

Von Martin Hubert | 09.01.2022

Das mit dem „in den Kopf schauen“ klappt immer noch nicht besonders gut – psychiatrische Diagnosen sind und bleiben deskriptiv und interpretieren Symptome (picture alliance / dpa)

Diagnose: Persönlichkeitsstörung. Typ eins: Narzissmus. Typ zwei: Zwanghafte Persönlichkeit. Typ drei: Dissoziale Persönlichkeit. Typ vier: Paranoide Persönlichkeit. Typ 5: Borderline. Und so weiter. Mit all dem soll Schluss sein.

Neues Diagnosehandbuch ICD-11 tritt in Kraft

„Es ist eine gewisse Sensation, weil in der Medizin, in der Psychiatrie wird einfach viel in einem Krankheitsmodell gedacht, das heißt ab hier ist krank, ab da ist gesund. Und das ist eben die Revolution, wenn man so will: So ist es nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in diesen vielen verschiedenen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen“, sagt Babette Renneberg, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der FU Berlin.

Die Sensation oder Revolution, die sie beschreibt, findet sich im ICD-11, dem neu überarbeiteten Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation. Das ICD-11 streicht zum 1. Januar 2022 die bisherigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen aus dem Katalog. Kein Narzissmus mehr, keine paranoide oder dissoziale Persönlichkeitsstörung. Es gibt nur noch die allgemeine Diagnose „Persönlichkeitsstörung“. Dazu Kriterien, die umschreiben sollen, wie viel Hilfe jemand braucht. Eine radikale Abkehr vom bisherigen Weg der Schulpsychiatrie.

Die Einordnung als „Psychopath“ war immer wieder ein Instrument politischer Willkür (imago stock&people)

Fragwürdige Wurzeln des Etiketts „Persönlichkeitsstörung“

„Wer nimmt sich das Recht zu sagen, das ist eine gewünschte, übliche, von mir aus sogar statistisch durchschnittliche Persönlichkeit, und was bringt uns das?“ Der Berliner Psychiater Andreas Heinz hält solche Expertenurteile über pathologische Schwellenwerte generell für problematisch. Und er weist auf die fragwürdigen Wurzeln der Kategorien hin. Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte.

„Das Schwierige an den Persönlichkeitsstörungen historisch ist, dass das eine Klassifikation der Beleidigung von sozial missliebigen Gruppen gewesen ist, also man hat gearbeitet mit „willensschwach“, „haltlos“, man hat die aufständischen jüdisch-deutschen und nichtjüdisch deutschen Revolutionäre nach dem Ersten Weltkrieg als Psychopathen gelabelt. Und man ist auch davon ausgegangen, dass diese Persönlichkeitsstörungen erblich sind und von Anfang an gegeben sind. Also der Unterschied zwischen einer zwanghaften Persönlichkeit und einer Zwangsneurose wäre, dass die zwanghafte Persönlichkeit konstitutionell schon immer zwanghaft war, während bei der Neurose entwickelt es sich.“

Das Etikett, eine „zwanghafte“, „narzisstische“ oder „ängstlich-vermeidende“ Persönlichkeit zu sein, stigmatisiert noch immer. Es suggeriert, dass ein Mensch anders ist und so bleiben wird. Aber das stimmt nicht. Persönlichkeitsstörungen müssen keineswegs von Kindheit an bestehen und lebenslang stabil bleiben. Das belegen Langzeitstudien inzwischen ganz klar. Damit ist auch das Kernkriterium hinfällig geworden, mit dem die Persönlichkeitsstörungen traditionell von anderen Störungen abgegrenzt wurden.

Ohne Kategorien droht Beliebigkeit

Die Diskussion darüber, wie man psychiatrische Diagnosen flexibler und besser an den individuellen Fall anpassen kann, läuft schon seit vielen Jahren. Die Crux: Wenn man die alten Kategorien aufgibt, droht wieder die Gefahr der Beliebigkeit. Die Therapeuten könnten sich dann auch schlechter darüber verständigen, was sie wie behandeln.

Nur bei den Persönlichkeitsstörungen hat man sich im neuen ICD-11 überhaupt der Herausforderung gestellt. Hier hatten die Probleme einfach überhandgenommen. Immer häufiger retteten sich die Psychiater in die unklare Diagnose „Persönlichkeitsstörung, nicht näher bezeichnet“. Und so wird dieses Störungsbild jetzt zum Testfall für die Zukunft der gesamten Psychiatrie.

Kann der Brückenschlag gelingen? Wird es mit dem neuen ICD-11 leichter, Diagnosen zu erstellen, die Zusammenhänge zwischen den Symptomen treffsicherer als bisher beschreiben, was auch der Forschung hilft? Und die offen dafür sind, welches Symptom bei den Patienten welches Leid hervorruft, um am Ende gezielter zu helfen? Babette Renneberg von der FU Berlin: „Auch da gibt es Fragebögen und auch da würde ich erst einmal zuhören, also was ist denn da dran? “

Die Sicht der Betroffenen auf ihre Probleme sollen Richtschnur sein. Welche Verhaltensweisen hat ein Patient entwickelt? Woran scheitert eine Patientin im Alltag, wie stark leidet sie? „Das verspricht jetzt das neue System tatsächlich, dass man dort vielleicht etwas weiter kommt mit der Möglichkeit, die Person eher zu beschreiben.“ Gleichzeitig gibt das ICD-11 den Allgemeinheitsanspruch von Diagnosen nicht auf. „Denn Achtung! Auch im neuen System gibt es eine Kategorie der Einteilung: Persönlichkeitsstörung liegt vor oder nicht.“

Leichte, mittlere oder schwere Persönlichkeitsstörung? Die Schweregrad-Bestimmung ist bei ICD-11 obligatorisch (picture alliance / dpa / Armin Weigel)

uafaneHilfe für die Ukraine

Die Stadt Leipzig bereitet sich auf die Ankunft von Menschen vor, die vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ihre Heimat verlassen müssen. Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft wird die Hilfe für Menschen auf der Flucht ebenso wie für die Menschen in der Ukraine organisiert und koordiniert.

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