Sterben russlanddeutsche Dialekte aus? Zwei Millionen Menschen bedienten sich einst dieser Mundarten, die fast gar nicht mehr in Russland und immer seltener in Deutschland vernommen werden. Nina Berend hat die Entwicklung im „Russlanddeutschen Dialektbuch“ aufgezeichnet.
Nina Berend dokumentiert die Mundarten der Russlanddeutschen
Sie sprachen, hessisch, südfränkisch, schwäbisch, bairisch oder niederdeutsch. Als die deutschen Auswanderer vor rund 250 Jahren nach Russland kamen, sprachen sie nur die Mundart ihrer Herkunftsländer. Und pflegten sie weiter. Denn häufig genug gründeten die hessisch Sprechenden gemeinsame Siedlungen, die Schwäbischen blieben ebenso unter sich und auch die Auswanderer mit niederdeutscher Mundart hielten aneinander fest, auch wenn sie weiterzogen und Tochterkolonien schufen.
Abgeschnitten von der alten Heimat, entwickelten sich in den russischen Siedlungsgebieten die mitgebrachten Mundarten zu russlanddeutschen Dialekten, wie die Sprachwissenschaftlerin Nina Berend in ihrer neuen Veröffentlichung »Russlanddeutsches Dialektbuch« beschreibt und damit zugleich auch eine kurze Geschichte der Russlanddeutschen dokumentiert.
»Die Herkunft, Entstehung und Vielfalt einer ehemals blühenden Sprachlandschaft weit außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets« heißt der Untertitel der Untersuchung, die auch einen Überblick über die Verbreitungsregionen einzelner Dialekttypen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart bietet. In ihrer Blütezeit, so die Autorin, hatten russlanddeutsche Dialekte fast zwei Millionen Sprecher. Auf einer CD, die zum Buch gehört, werden Tonbeispiele verschiedener Dialekte vorgestellt, die alle vor 1990 in der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen wurden.
Ein eigenes Kapitel beschäftig sich mit dem Einfluss der russischen Sprache, »dem wichtigsten Merkmal, das die russlanddeutschen Dialekte von den Mundarten in Deutschland unterscheidet.« Manche russische Wörter seien schon so lange in den Dialekten vorhanden, dass die Dialektsprecher den russischen Ursprung gar nicht mehr erkennen würden.
Dazu gehörte beispielsweise »Banje«, das russische banja für Sauna, »Maliene« (malina für Himbeeren), »Budke« (budka für kleine Bude), »Tapke« (tapki für Hausschuhe ), »Blini« (bliny für Pfannkuchen) oder »Maschiin« (maschina für Auto). Stets wurden die russischen Wörter phonetisch und grammatikalisch den jeweiligen Dialekten angepasst.
Abrupt endet die Entwicklung der Dialekte: Nach Deportation und Weltkrieg und mit dem Verbot der Rückkehr in die alten Siedlungsgebiete lebte die Bevölkerungsgruppe verstreut und damit abgekoppelt von ihren überkommenen Dialekten. Auch Heiraten außerhalb der eigenen Bevölkerungsgruppe und der Umstand, dass zumindest in der Öffentlichkeit durchweg Russisch gesprochen wurde, leiteten den Niedergang der russlanddeutschen Dialekte ein, die in diesem Buch beschrieben werden und werden für Russland in übersehbarer Zeit der Geschichte angehören. Unter Aussiedlern in Deutschland ist die Tendenz ähnlich, wenngleich es »denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich« sei, dass Eltern oder Großeltern den Dialekt an ihren Nachwuchs weitergeben. So könnte er wenigstens in den Familien noch eine Zeitlang überleben. Wohl eher sei damit zu rechnen, dass die Mundarten der Russlanddeutschen in den bundesdeutschen Dialekten und der deutschen Hochsprache allmählich aufgehen und bald verschwunden sind. Umso bedeutsamer sei es, jetzt, da es noch möglich ist, diese Dialekte zu dokumentieren. »Dadurch konnte«, hofft Nina Berend, „den kommenden Generationen der Russlanddeutschen sowie allen Interessierten, Laien wie Wissenschaftlern die Sprache dieser ehemals blühenden Sprachlandschaft weit außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets erschlossen werden.“