Mit vierrädrigen Ochsenkarren zog die erste Gruppe der Rußlanddeutschen (Wolgadeutschen) vom Paraná-Flußhafen Diamante kommend am 28. Januar 1878 in das provisorisch aufgerichtete Lager an der Ensenada in der Nähe des jetzigen rußlanddeutschen Dorfes Aldea Protestante in der Provinz Entre Ríos in Argentinien ein.
Mit vierrädrigen Ochsenkarren zog die erste Gruppe der Rußlanddeutschen (Wolgadeutschen) vom Paraná-Flußhafen Diamante kommend am 28. Januar 1878 in das provisorisch aufgerichtete Lager an der Ensenada in der Nähe des jetzigen rußlanddeutschen Dorfes Aldea Protestante in der Provinz Entre Ríos in Argentinien ein.
Hier mußten sie noch wochenlang unter den primitivsten Verhältnissen warten, bis ihnen durch die Regierung Land zugeteilt wurde. Ein gewisses Mißtrauen kann man ihnen nicht verübeln. In Rußland wurden Versprechungen nicht gehalten; auf der Reise fielen sie manchem Betrüger in die Hände. Auch die Ansiedlung in Argentinien ging nicht mit rechten Dingen zu. Das eigentliche Ziel ihrer Reise sollte Rio de Janeiro in Brasilien sein, gelandet aber sind sie in Buenos Aires. Als dann noch eine Gruppe gewaltsam in der Provinz Santa Fé angesiedelt werden sollte und an der Хberfahrt nach Entre Ríos gehindert wurde, ging diese Gruppe mit Gewalt vor und kämpfte sich die Überfahrt frei.
Der ersten Einwanderung folgten noch viele, und bis in die Zeit des ersten Weltkriegs kamen noch einzelne Familien aus Rußland hier an. Von dem schon genannten evangelischen rußlanddeutschen Dorf Aldea Protestante aus zogen die Einwanderer in die ganze Provinz Entre Ríos, so daß im Laufe der Jahrzehnte sechs Gemeinden (mit acht Pfarrern) entstanden sind: Viale, Crespo, General Ramírez, Lucas González, San Antonio und die Stammgemeinde General Alvear.
Diese sechs Gemeinden gehören zur Evangelischen Kirche am La Plata (vorher: Deutsche Evangelische La Plata Synode).
In der ersten Zeit ihrer Ansiedlung waren die Rußlanddeutschen kirchlich und gemeindlich auf sich selbst angewiesen. Zuerst versahen Gemeindeglieder und ehemalige Lehrer provisorisch als Lektoren den pastoralen Dienst; auch plötzlich auftauchende, sich als Pastoren ausgebende Reichsdeutsche wurden als solche anerkannt. Es war immer ein Glück, wenn sie nicht allzu lange blieben. Glieder der Brüdergemeinschaft riefen zur Brüderversammlung. Noch heute berichten alte Leute von ihren Eltern und Großeltern, daß sie bis an ihr Lebensende mit Schrecken an diese hirtenlose Zeit gedacht haben.
Die Situation wurde anders, als rußlanddeutsche Adventisten in der Hauptgemeinde "General Alvear" Unruhe stifteten und unter den verantwortlichen Männern immer mehr die Erkenntnis wuchs, daß ohne eine geordnete Pastorisierung ein echtes Gemeindeleben nicht möglich sei. Pfarrer aus Buenos Aires und der Gemeinde Esperanza in Santa Fé halfen aus, bis dann 1896 der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin den ersten Pfarrer nach Aldea Protestante (General Alvear) sandte, der von hier aus nicht nur seine direkte Gemeinde, sondern alle Rußlanddeutschen in der ganzen Provinz Entre Ríos betreute. Die Adventisten (Rußlanddeutsche), die sich im Raum der Gemeinde General Alvear in Puiggari niederließen, leben heute noch dort in einer größeren Siedlung, durchaus fortschrittlich, mit einem modernen Krankenhaus, Volksschule und Aufbauschulen. Das Krankenhaus wird gewöhnlich auch von den Gliedern der Evangelischen Gemeinde benutzt. Die strenge und gesetzliche Zucht des ganzen gemeindlichen und privaten Lebens, die durchaus etwas Imponierendes hat, läßt allerdings immer mehr nach. Diese Siedlung der Adventisten bleibt für die Evangelische Gemeinde eine dauernde Frage an unser Verständnis von Sabbat und Sonntag und der rechten Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Zur ernsten Gefahr sind die Adventisten später für die evangelischen Rußlanddeutschen nach der ersten Beunruhigung nicht mehr geworden.
Die Bindung der ersten Gemeinde an die Evangelische Kirche der Altpreußischen Union führte bei der Gründung der Deutschen Evangelischen La Plata-Synode im August 1900 dazu, daß sie sich ebenfalls der neugegründeten Synode anschloß. Diese war ein legitimer Zweig der Kirche der Altpreußischen Union. Nach dem Urteil des verstorbenen rußlanddeutschen Pfarrers Jakob Riffel, war gerade diese Kirche eine Kirche, die der Situation an der Wolga entsprach und darum den im Lauf der Jahrzehnte gegründeten Gemeinden in Entre Ríos die entscheidende geistliche Hilfe geben konnte. In den rußlanddeutschen Gemeinden sind lutherische und reformierte Glieder vereint beisammen; es stört auch nicht, wenn in einer Gemeinde sowohl der kleine lutherische als auch der reformierte Katechismus in Gebrauch sind.
Es wäre der Mühe wert zu erforschen, woher es kam, daß unsere Rußlanddeutschen bei den weiteren Gemeindegründungen und bei der Erhaltung dieser Gemeinden in den ersten Jahrzehnten sich so unnachgiebig zeigten und zum Separatismus neigten. War es die Tatsache, daß in den Gemeinden an der Wolga Polizei und Kirche, Polizist und Pfarrer, die ordnungsbildenden Faktoren waren und man hier von vornherein einer gleichen Stellung der Kirche und des Pfarrers in der neuen Situation entgegenwirken wollte? War es das süddeutsche pietistische Erbe, das zum Separatismus neigte? War es der schwere Lebenskampf, der nur mit großer Mühe und bei einer gewissen Beweglichkeit dem Boden das tägliche Brot abgewann, so daß der Blick für das echt Geistliche und für geistige Werte verlorenging und die Gemeinde der Raum wurde, wo die menschlichen Wertgefühle in einer unnatürlichen Weise exponiert wurden und es dauernd zu Auseinandersetzungen mit den Pfarrern und Vorständen und untereinander um jedes und um nichts kam? War es die Tatsache, daß bei der Kleinheit der einzelnen Gemeinden und Gemeindegruppen Familien- und Erbschaftsstreitigkeiten auf Gemeindeebene ausgetragen wurden? War es nur der schwere Existenzkampf, daß um jede Beitragserhöhung als Grundlage für geordnete Gemeindefinanzen gekämpft werden mußte und der Sinn für ein außergemeindliches Opfer fast vollständig abging? War es der notvolle Zustand, daß es zu einem geordneten Gemeindeleben oft nicht kommen konnte, weil vakante oder neu errichtete Gemeinden bzw. Pfarrbezirke für lange Zeit nicht besetzt wurden, nicht besetzt werden konnten? War es, wie noch in jüngster Zeit von außenstehender Seite behauptet wurde, die Schuld der Pfarrer, denen das Verständnis für die Eigenart und besondere Mentalität der Rußlanddeutschen fehlte?
Jedenfalls führten diese angeschnittenen Probleme schon im Anfang zu einer sich immer weiter ausbreitenden Zersplitterung, die erst im letzten Jahrzehnt zum Stillstand gekommen ist. Jetzt sind unsere Gemeinden festgegründet auf dem Wege zueinander und miteinander, gemeinsame Aufgaben werden gesehen und angepackt, und vor allen Dingen wird der gemeinsame Weg mit den anderen Gemeinden, gleich welcher Herkunft, in unserer Evangelischen Kirche am La Plata bejaht. Man öffnet sich für die gesamtkirchlichen Aufgaben und die einer bodenständigen Kirche.
Allerdings bleibt es eine Tatsache, daß fast an jedem größeren Ort - aber auch kleine Ortschaften und Siedlungen sind nicht ausgenommen - neben der größeren Evangelischen Gemeinde eine kleinere Kongregational- oder Missourigemeinde oder sogar beide bestehen, die Zeugnis ablegen von vergangenen Unzuträglichkeiten, Familienstreitigkeiten, menschlichem Versagen, Schielen nach dem niedrigeren Gemeindebeitrag usw.
Von General Ramírez aus wird eine größere Gruppe verstreuter rußlanddeutscher Baptisten gemeindlich betreut.
Charakteristisch für einige Gemeinden in Entre Ríos ist, daß sich innerhalb der Gemeinden noch von Rußland her die Brüdergemeinschaft erhalten hat und, außer zu einigen Brüderstunden, einmal im Jahr zu einer großen Brüderkonferenz jeweils an einem anderen Ort für einige Tage zusammenkommt und viele mit ihnen sympathisierende evangelische Christen anzieht. Ob diese Brüdergemeinschaft aber mit ihren veralteten Prinzipien und Formen noch eine Zukunft hat? Von der Jugend wird sie allgemein abgelehnt.
Fast genau zur Zeit der Ansiedlung in Entre Ríos bevölkerten Wolgadeutsche auch das Gebiet um Coronel Suarez im Süden der Provinz Buenos Aires. Die Gemeinde Coronel Suarez ist heute ein sehr starker und aktiver Teil der vor einiger Zeit gegründeten Pfarrgemeinde Bahía Blanca.
Im Jahr 1930 siedelten sich sehr viele Nachfahren von Rußlanddeutschen aus Brasilien bei Paysandú in Uruguay an. Das führte 1957 zur Gründung einer eigenen Pfarrgemeinde.
In Misiones sind in den Gemeinden Leandro N. Alem, 25 de Mayo und Montecarlo große Gruppen von Bessarabien- und Wolyniendeutschen, die zum Teil aus Brasilien herüberkamen, die Vertreter des Rußlanddeutschtums.
In Paraguay gibt es eine von Rußlanddeutschen gegründete Mennonitenkolonie. Seit einiger Zeit ist unter der rußlanddeutschen Bevölkerung ein großer Zug in die Städte, besonders in die Hauptstadt Buenos Aires, festzustellen. Diese Entwicklung ist heute als normal zu bezeichnen, wenn man an die immer kleiner werdenden Ländereien denkt, die als Erbschaft für die vielen Nachkommen übrigbleiben und die nicht einmal das tägliche Brot hergeben, geschweige einen höheren Lebensstandard ermöglichen.
Im Allgemeinen sind die jungen Rußlanddeutschen in Buenos Aires sehr fleißig und sparsam und lernbegierig und bringen es zu einem gewissen Wohlstand und da, wo sie arbeiten, zu einer gehobenen Vertrauensstellung. Weil aber die ersten Jahre vollständig mit Arbeit angefüllt - manchmal am Tag zwei verschiedene Arbeitsschichten - und dazu die Arbeiten am eigenen Haus zu erledigen sind, bleibt für gemeindliches Leben und kirchliche Aufgaben kaum Zeit übrig. Ganze Familien schon sind in einer solchen Aufbauzeit dem kirchlichen Leben entfremdet worden.
Vielleicht kommt noch dazu, daß die Teilnahme am gemeindlichen Leben in der Heimatgemeinde eine selbstverständliche Pflicht und Sitte war, unterstützt durch die Autorität des Vaters. Bei Wegfall dieser Autorität in der "Fremde" verschwindet die Gemeinde aus dem Blickfeld, auch und nicht zuletzt wegen der weiten Entfernungen.
Gelingt es aber, diese jungen Menschen gleich am Anfang in die Gemeinde zu bekommen, so gehören sie bald zu den treuesten Gliedern. Vergessen dürfen wir allerdings nicht, daß sie es wegen ihrer starken Familientradition nicht immer leicht haben, sich zu assimilieren, auch nicht in evangelischen Großstadtgemeinden mit ihren besonderen Prägungen. So kann es durchaus geschehen, daß eine Familie aus Entre Ríos in Buenos Aires nicht den Kontakt zu einer unserer Gemeinden findet, sondern zu einer anderen Denomination. Die Folge ist fast immer, daß alle nachfolgenden Glieder aus dem Familienverband, die über die bereits eingesessene Familie in die Großstadt geschleust werden, die Verbindung zu dieser gleichen Denomination aufnehmen. Das Einleben in eine evangelische Stadtgemeinde in Buenos Aires war anfänglich für unsere jungen Rußlanddeutschen nicht leicht, da ihnen oft nicht das nötige Verständnis entgegengebracht wurde, vielmehr sogar eine gewisse Verachtung. Welch einen Umwandlungsprozeß hat ein junger Mensch vom kargen Kamp zur Weltstadt mit ihren Anfechtungen durchzumachen!
Da, wo sich gleiche Volks- und Familiengruppen in der Gemeinde wiederfinden, wo sie als gleichberechtigt und gleichgeachtet anerkannt werden und wo ihnen von Anfang an nachgegangen werden kann, bilden sie eine treue Gruppe in einer evangelischen Gemeinde, unter Umständen auch die tragende. Und je mehr sie bildungsmäßig frei und beweglich werden, um so mehr sind sie in der Lage, Leitungsaufgaben zu übernehmen. In Buenos Aires ist die Pfarrgemeinde Villa Ballester und Quilmes mit seinen zwei Pfarrbezirken bereits stark durch Rußlanddeutsche geprägt.
Es kommt auf eine gute Zusammenarbeit der Großstadtgemeinden von Buenos Aires mit den Gemeinden im Landesinnern an, damit bei einer weiteren Abwanderung der Landbevölkerung die Rußlanddeutschen von Anfang an den Kontakt mit den evangelischen Gemeinden in Groß-Buenos Aires finden. In den letzten Jahren ist von ihnen schon sehr viel getan worden, aber es reicht wohl noch nicht aus.
Der Zug zur Stadt, zur Großstadt und zur Hauptstadt wird unter den Rußlanddeutschen wohl nicht mehr aufhören, sondern sich sogar verstärken, zumal auch auf dem Kamp gewaltige Veränderungen zu erwarten sind. Darum ist in unseren rußlanddeutschen Gemeinden im Landesinnern die Arbeit nicht mehr auf die Erhaltung des Bestehenden und erst recht nicht auf die Konservierung des Veralteten auszurichten, sondern auf die bereits begonnene und auf uns zukommende Zukunft. Es sollte auch bei ihren Gliedern möglich werden, unter völlig neuen Lebensbedingungen und -verhältnissen mit anderen Bindungen ein neues Leben zu beginnen und zu meistern und dabei doch bewußt als Christ in einer solchen neuen Umgebung zu stehen. Die Gemeinden im Landesinnern sollten mithelfen, diese Voraussetzungen zu schaffen.
Pastor Karl Schwittay,
Aldea Protestante, Argentinien