Wolgadeutscher Seelsorger, Organisator und Journalist
Im Lauf der Jahrhunderte hatten sich durch zahlreiche und kontinuierliche Auswanderung von Deutschen in der alten und der neuen Welt deutsche Siedlungsgebiete gebildet, die in der Regel zur spürbaren wirtschaftlichen und kulturellen Bereicherung der Adoptiv-Länder führten. Über die jahrhundertelange fruchtbare deutsche Präsenz in Nordamerika kann man seit Jahrzehnten in dem Yearbook of German-American Studies und dem German-Canadian Yearbook/Deutschkanadischen Jahrbuch nachlesen. Aus Liebe zur Muttersprache und der ererbten Kultur, aus Respekt vor der in langen Generationen geschaffenen Tradition und aus dem Willen, das Ererbte in der neuen Umwelt zusammen mit den neuen Erfahrungen für sich und die Gemeinschaft zu nutzen, im Glauben an eine leistungssteigernde Synthese des Alten und des Neuen hielten und halten viele Einwanderer und ihre Nachfahren am mitgebrachten Erbe fest. Eine solche Bewahrung ohne Erstarrung war und ist aber nur um den Preis ständiger persönlicher und organisatorischer Anstrengung zu haben. Religiöse Gemeinden, kulturelle und gesellschaftliche Organisationen sowie Medien in der Muttersprache waren und sind die Orte, wo eine Minderheit sich ihrer selbst vergewissern kann. Diese Institutionen hängen aber sehr oft von der unermüdlichen Tätigkeit einzelner Idealisten ab.
Einer dieser lebenslang sich für seine Gemeinschaft einsetzenden Idealisten war der rußlanddeutsche Pfarrer Johannes Schleuning, der am 27. 1. 1879 in Neu-Norka an der unteren Wolga geboren wurde. Sein Geburtsort gehörte zu einem stark von Deutschen geprägten Gebiet, in das aufgrund eines Anwerbungsmanifestes der Kaiserin Katharina II., das den Siedlern eine Reihe von Privilegien garantierte, seit 1763 zahlreiche deutsche Bauern und Handwerker — in den ersten fünf Jahren 29.000 Menschen — eingewandert waren, über 300 deutsche Dörfer entstanden damals, denen später viele Tochterkolonien hinzugefügt wurden. Nirgendwo hatten es die deutschen Auswanderer leicht, aber dem zähen Bauernvolk der Wolgadeutschen war ein besonders schwieriges Los beschieden: fast hundert Jahre dauerten die Überfälle von Steppenvölkern, Jahrzehnte dauerte es, bis der Steppenboden endlich reiche Ernte brachte, schon in den 1870er Jahren wurden ihnen die für ewig versprochenen Privilegen entzogen. Im 1. Weltkrieg, der laut dem russischen Ministerpräsidenten Goremykin nicht nur gegen das Deutsche Reich, sondern gegen das Deutschtum überhaupt geführt wurde, mußten sie Diskriminierung und Verfolgung erleiden; dann folgten die Kämpfe des Bürgerkriegs, die bolschewistische Revolution, Enteignungen, gnadenlos eingetriebene Zwangsablieferungen und 1921/22 eine furchtbare Hungersnot, die durch Massentod und Flucht in einem Jahr zum Verlust von einem Viertel der Bevölkerung führte, dann die Zwangskollektivierung, und der stalinistische Terror, schließlich im Herbst 1941 die Deportation der gesamten Bevölkerung, ca. 400.000 Wolgadeutsche, in die sibirischen und kasachischen Zwangsarbeitslager, in Solschenizyns "Archipel Gulag".
Angesichts solchen Schicksals standen die wolgadeutschen Führungskräfte vor äußerst schwierigen Aufgaben. Viele glaubten in den Bürgerkriegswirren zunächst, daß die Lage sich endlich bessern müsse, anderen, die einen Sieg des Bolschewismus befürchteten, gelang rechtzeitig die Flucht nach Deutschland. Zu letzteren gehörte Schleuning, der nach einem Studium der Theologie in Dorpat Pfarrer in Tiflis geworden war, wo er von 1910 bis 1914 einer deutschen Gemeinde diente und auch Redakteur der Monatsschrift „Kaukasische Post“ war, seine Kritik an der Diskriminierung der Deutschen brachte ihm im Oktober 1914 die Verbannung nach Sibirien ein. Erst nach der Februarrevolution 1917 konnte er an die Wolga zurückkehren, wo er einige Monate an der Herausgabe der „Saratower Deutschen Zeitung“ mitwirkte, der ersten deutschen Zeitung nach dem Verbot der deutschen Sprache im 1. Weltkrieg; im Dezember wurde die Zeitung aber erneut — diesmal von den Bolschewiken — verboten.
Als Pfarrer und bürgerliche Führungskraft äußerst gefährdet, gelang ihm im Frühjahr 1918 die Emigration nach Deutschland, wo er sofort weitgespannte Aktivitäten zur Unterstützung seiner Landsteute entfaltete. Im Rahmen des „Zentralkomitees der Deutschen in Rußland“, dessen Vorsitzender er von der Gründung 1921 bis 1929 war, machte er die deutsche und ausländische Öffentlichkeit auf die schwierige Lage der Rußlanddeutschen aufmerksam. Im April 1919 gründete er in Berlin den „Verein der Wolgadeutschen“ und wurde dessen Vorsitzender. Dieser Verein bemühte sich zunächst um die Integration der geflüchteten Wolgadeutschen, dann sammelte er in Deutschland und Amerika Geld zur Linderung der Hungersnot an der Wolga; zu diesem Zweck reiste Schleuning 1921 in die USA. Die Zusammenarbeit der Wolgadeutschen in den USA bei der Hungerhilfe führte 1922 zur Gründung der „American Volga Relief Society“. Auch im Vorstand der Ende 1918 in Berlin gegründeten „Kolonistenbank“ wirkte Schleuning mit, ebenso war er für den VDA lange in führender Stellung tätig. Von ihrer Gründung 1923 bis 1935 war er Schriftleiter der Monatszeitschrift „Deutsches Leben in Rußland“, des Organs des Zentralkomitees der Deutschen aus Rußland. Diese Publikation wurde im September 1935 von der Gestapo verboten. Beruflich betreute Schleuning von 1925 bis Ende 1933 die Pfarrstelle in einer Berliner Vorortsgemeinde, dann wurde er Superintendent und Pfarrer in Berlin-Lichtenberg. Als Pensionär setzte er wieder seine ganze Kraft für die Rußlanddeutschen ein. Er kümmerte sich um die Betreuung rußlanddeutscher Flüchtlinge und Rücksiedler und beteiligte sich am Aufbau der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen aus Rußland, die später „Landsmannschaft der Rußlanddeutschen“ genannt wurde; von 1952 bis 1955 war er ihr Vorsitzender und Sprecher, von 1955 bis 1957 fungierte er noch als ihr Sprecher. Er starb am 7. 9. 1961. Schleuning war ein fruchtbarer Schriftsteller. Neben vielen Artikeln in diversen Periodika verfaßte er folgende Bücher: Die deutschen Kolonien im Wolgagebiet (Berlin 1919); Aus tiefster Not. Schicksale der deutschen Kolonisten in Rußland (Berlin 1922); Das Deutschtum in Sowjetrußland (Berlin 1927); In Kampf und Todesnot (Berlin 1930), Die Wolgadeutschen. Ihr Werden und ihr Todesweg (Berlin 1932); Die Tragödie des deutschen Bauerntums in Sowjet-Rußland (Leipzig 1933); Die Stummen reden. 400 Jahre evangelisch-lutherische Kirche in Rußland (Erlangen 1952). Seine „Lebenserinnerungen eines rußlanddeutschen Pfarrers“ erschienen unter dem Titel „Mein Leben hat ein Ziel“ 1964 in Witten.
Deutsche Pioniere in aller Welt
VON PROF. HARTMUT FRSCHLE
AULA 12/2002