Aus dem Vortrag von Lev Kopelev vor Germanisten in Moskau 1990 (Lev Kopelev - Dissident und Menschenrechtler)
... Es gibt deutsch-französische, deutsch-englische, russisch-französische, russisch-englische gedeihliche, alte, vielfältige Geschichten und Beziehungen. Die Beziehungen aber von Russen und Deutschen, die kulturellen wie geistigen sind eine einzigartige Erscheinung.
Ich möchte nur einige Fakten nennen, die uns berechtigen, die Ausschließlichkeit und Einmaligkeit genau dieses Spannungsfeldes, dieser Geschichte zu unterstreichen. Ein Deutscher schrieb als erster Gedichte über Moskau, über Nowgorod, über die russischen Flüsse und die russischen Landschaften, über russische Menschen. Paul Flemming - einer der bedeutendsten Dichter des deutschen Barock, Angestellter der deutschen Botschaft schrieb „ein Poem über Nowgorod und einen Sonetenzyklus über Moskau. Und das in den 30-er Jahren des 17. Jahrhunderts, wodurch er um fast 100 Jahre den russischen weltlichen (ich betone, nicht kirchlichen) Dichtern zuvorgekommen war. Das war nämlich in der Zeit, als es in den Vorstellungen der Menschen im Westen kein Russland, sondern lediglich ein Moskauer Zarenreich gegeben haben soll. In deutscher Sprache erschienen die Bücher von Oliarius und die Gedichte von Paul Flemming. Und genau diese Bücher verkörperten jene widerspruchsvollen, ja manchmal krass einander widersprechenden Wahrnehmungen Russlands, die sich durch die ganze Geschichte deutsch - russischer geistiger Kulturbeziehungen verfolgen lassen. Oliarius- ein gewissenhafter, pragmatischer und etwas hochmütiger Gelehrter jener Zeit - schildert Russland etwas herablassend und ausführlich bis ins kleinste Detail. Paul Flemming schreibt mit tiefster Zuneigung und Verständnis.
Das einzige größere Werk über Deutschland war wohl das von Kryshanitsch, durchdrungen von wütender, inbrünstiger Polemik gegen die Deutschen, hauptsächlich gegen die Protestanten. Kryshanitsch, der Katholik wollte ein katholisches, von einem Moskauer Zaren regiertes, Reich gründen, was ihm 15 Jahre Verbannung einbrachte. Das Buch von Kryshanitsch war eine der ausführlichsten Beschreibungen Deutschlands des 17. Jahrhunderts, die in Russland erschien. Im Laufe des Jahrhunderts der Aufklärung ändert sich alles - es ist das Jahrhundert der vertrauensvollen Schritte zur Annäherung. So ist zum Beispiel die Rolle von Leibnitz bei der Entwicklung dieser Beziehungen kaum zu unterschätzen. Er war einer der Räte von Peter dem Großen. Ihr Schriftverkehr und Begegnungen hatten solche konkreten Folgen, wie die Gründung der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Die ersten Pläne zur Gründung der Akademie entwarf Leibniz. Leibniz war es, der die ersten Wissenschaftler für die Akademie empfahl und sie rekrutierte. Noch viel aktiver wirkte sein Schüler Wolf. In diesem Zusammenhang sollte man auch Wolfs Schüler Hordschiet erwähnen. Er ist einer der ersten deutschen Aufklärer, dem in der Geschichte kein guter Ruf beschieden war. Er wurde sowohl von Lessing, als auch von Goethe kritisiert. Seine Verdienste wurden in der deutschen Geschichte genau so verkannt, wie die von Tredjakow in der russischen. Es war aber Hordschiet, der als Erster die Werke russischer Dichter und Gelehrter veröffentlichte. Die Gedichte von Kantemir veröffentlichte er früher, als sie in Russland erschienen. Sowohl in deutscher, als auch in russischer Sprache. Er druckte die Werke von Lomonossow, Tredjakowski, Sumarokow. Sumarokow empfahl er den deutschen Dramatikern sogar als einen Autoren, der fähig sei, klassische Tragödien zu nationalen Themen zu schaffen. Gleichzeitig aber lässt sich am Geschick dieses Gelehrten eine Gesetzmäßigkeit in der Geschichtswissenschaft verfolgen, die in der Regel bis heute sogar von Historikern vom Fach verkannt wird. Diese Gesetzmäßigkeit heißt: Unabhängigkeit der geistigen von der staatspolitischen Entwicklung. Ein Unglück in den letzten zwei Jahrhunderten, das besonders scharf in der Gegenwart zu Tage tritt, ist die Gleichsetzung der Nation mit dem Staat. Die Gleichsetzung der politischen Ideologie mit der geistigen Entwicklung, der nationalen Traditionen mit den politischen.
In Russland waren die Deutschen nicht nur Ausländer. Schon zu Peters Zeiten gibt es in Russland eigene Deutsche. Das Verhältnis zu den Deutschen in Russland wird einerseits facettenreicher, andererseits aber wird es emotional geladener, komplizierter.
Im 18. Jahrhundert existiert schon die Akademie der Wissenschaften, gibt es schon die Deutschen auf der Insel Wassiljewski, Apotheker, Bäcker, Schuster, Kunsttischler. Es gibt aber auch die Deutschen in Zarskoje Selo, Deutsche als Minister, Generäle, Offiziere. Diese Dualität ist widerspruchsvoll, zeitweise dramatisch widerspruchsvoll und wirkte sich besonders krass in Lomonossows Leben aus. Er, der fünf Jahre lang in Deutschland lebte, in Marburg und Freiburg studierte, mit einer Deutschen verheiratet war (und es war eine glückliche Ehe), der einem deutschen Schwager sein Eigentum vermachte. Der Wolf dermaßen verehrte, dass er gegen ihn nicht polemisierte, obwohl er in Gesprächen mit ihm und in seinen Aufzeichnungen schon lange die naive Wolfsche simplifizierte Konzeption übertraf. Und siehe, mit welcher Wut er mit Speer, Müller, Bayer und den deutschen Historikern polemisierte. Klingen doch auch schon ganz anders seine nationalistischen Töne, indem er beweist, dass die Waräger Russen waren. Und die Preußen. Die Preußen sind Nachkommen der Russen. Gerade diese Dualität in der Wahrnehmung kommt in vielen damaligen Erscheinungen im Lande zum Ausdruck...