Viktor Heinz ergründet die Dialekte der Russlanddeutschen
Der Schriftsteller Viktor Heinz (71) lebt seit 1992 in Göttingen und steht in vorderster Linie der russlanddeutschen Literaturszene.
Er ist Mitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e.V. und hat zahlreiche Arbeiten in Sammelwerken sowie in Buchform veröffentlicht.
2008 hat Heinz im Augsburger Waldemar Weber Verlag ein Buch über die Dialekte der Deutschen aus Russland veröffentlicht, in dem er auf unterhaltsame Weise aus Geschichte und Gegenwart der Mundarten der Deutschen aus Russland erzählt. In einem Einleitungswort beschreibt er die Sprachsituation der Russlanddeutschen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und versucht, die „Sprachlosigkeit“ vieler seiner Landsleute zu ergründen.
Die Autorin Nadja Runde sprach mit Viktor Heinz über sein Buch, die Vielfalt der deutschen Dialekte und die Geschichte der Mundartenforschung.
Nadja Runde: Bekanntlich gibt es in Deutschland neben Hochdeutsch noch zahlreiche Dialekte. Wie sind sie entstanden?
Viktor Heinz: Die Herausbildung der Dialekte greift historisch weit in die Vergangenheit zurück. Die sprachliche Splitterung geht noch auf die germanischen Stämme zurück, durch territoriale Teilung erfuhren auch die jeweiligen Sprachen mit der Zeit Veränderungen, Anpassungen und weitere Entwicklungen. Regional geprägte Mundarten gab es bei allen Völkern, jedenfalls in unterschiedlichem Maße.
Die Dialekte der fünf germanischen Hauptstämme – Franken, Sachsen, Alemannen, Bayern und Thüringer – bildeten die Grundlage der künftigen Nationalsprache der Deutschen. In Deutschland sind die regional geprägten Dialekte bis in das 20. Jahrhundert erhalten geblieben, in manchen Regionen bleiben sie nach wie vor lebendig und werden vor allem auf dem Lande gepflegt.
Im Vergleich zur russischen Sprache wies die deutsche während der feudalen Zersplitterung (Fürstentümer) viel größere lokale Unterschiede auf, insbesondere zwischen den niederdeutschen und oberdeutschen Mundartengruppen.
Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte der russische Wissenschaftler Lomonossow, der lange in Deutschland gelebt hat, auf dieses Phänomen hingewiesen und festgestellt: „Das russische Volk, das über alle Weiten des Reiches zerstreut ist, spricht trotz großer Entfernungen in verständlicher Sprache untereinander in Städten und auf dem Land. In einigen Staaten dagegen, zum Beispiel in Deutschland, versteht ein bayrischer Bauer kaum einen mecklenburgischen oder ein brandenburgischer einen schwäbischen, obwohl alle zum deutschen Volk gehören.“
Diese Vielfalt der Mundarten führte in Deutschland die nationale Zersplitterung der deutschen Kleinstaaten im Mittelalter herbei. Die Muttersprache der Russlanddeutschen vor dem Zweiten Weltkrieg und vor der Deportation - und für viele auch heute noch - bleibt einer jener Dialekte, die ihre Vorfahren im 18. und 19. Jahrhundert aus den deutschen Landen mitgebracht hatten.
Sie haben vor allem die Mundart der Deutschen, die nach Sibirien deportiert wurden, erforscht. Wann haben Sie damit angefangen und was war Ihre Motivation?
Ich habe nicht nur die Dialekte der nach Sibirien deportierten Deutschen erforscht, sondern auch derjenigen Deutschen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts während der Stolypin-Reform in Westsibirien und Nordkasachstan ansiedelten. Sie kamen aus den wolgadeutschen oder süddeutschen Mutterund Tochterkolonien und gründeten deutsche Dörfer, in denen alle Bewohner Mundart sprachen.
Und da sie ursprünglich aus verschiedenen Orten kamen, sprachen sie auch verschiedene Mundarten.
Schon als Schüler habe ich festgestellt, dass meine Landsleute im Dorf unterschiedlich redeten. Meine Eltern unterhielten sich in Südhessisch, und die Großmutter sprach Oberhessisch, das sich ganz stark von dem ersten unterschied. In der Schule wurde Russisch gelehrt, von dem wir, Kinder aus deutschen Familien, bei der Einschulung keine Ahnung hatten. Aber das alles wurde mir erst Ende der sechziger Jahre wirklich bewusst, als ich an der Omsker Pädagogischen Hochschule unterrichtete. Damals begann ich auch, die deutschen Dialekte in Russland zu erforschen.
Die Forschung zu den Mundarten der Russlanddeutschen geht auf die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Damals hat der deutsche Germanist Wolf von Unwerth in einem Kriegsgefangenenlager Dialekte aufgezeichnet. Waren solche Studien überhaupt zugänglich in der Sowjetunion?
Selbstverständlich ist mir die Arbeit von Unwerth bekannt, denn es war tatsächlich der erste Versuch dieser Art, die Dialekte der deutschen Kolonisten in Russland zu beschreiben. Aber ich weiß auch, dass der Professor der Saratower Universität, Georg Dinges, der die Mundarten des Wolgagebiets erforschte, die Bemühungen von Unwerth zwar schätzte, aber einige seiner Schlussfolgerungen oder Herangehensweisen kritisierte. So betrachtete Unwerth die Mundarten der Tochterkolonien und der jeweiligen Mutterkolonien als eine Einheit, in Wirklichkeit unterscheiden sie sich oft ganz stark. In den zwanziger Jahren war die Mundartforschung auf der Tagesordnung. Die sowjetischen Sprachforscher Peter Sinner, Georg Dinges, Viktor Schirmunski und andere forschten zusammen mit deutschen Wissenschaftlern aus der Marburger Universität. Anfang der dreißiger Jahre wurde der politische Druck immer stärker, die sowjetischen Wissenschaftler wurden für ihre Kontakte ins Ausland als Spione der ausländischen Geheimdienste verfolgt.
Erst Ende der fünfziger Jahre hatte man wieder die Möglichkeit, die Forschungen fortzusetzen oder neu aufzunehmen, diesmal in den Deportationsorten der Russlanddeutschen.
Allerdings mussten die Wissenschaftler in ihren Forschungsarbeiten die Geschichte der Deportation verschweigen.
An dieser Stelle sind besonders die Bemühungen von Professor Hugo Jedig hervorzuheben, Leiter des Lehrstuhls für deutsche Sprache am Omsker Pädagogischen Institut. Er förderte eine intensive Arbeit der Dozenten der deutschen Sprache und gründete eine Schule der deutschen Dialektologie in Omsk. Es wurden zu dieser Zeit auch Dissertationsarbeiten verfasst, die sich mit deutschen Dialekten Sibiriens und Nordkasachstans beschäftigten. Aber diese Dissertationen verstaubten in der Regel in den Archiven, für die breite Öffentlichkeit waren sie unzugänglich.
Der Sprachwissenschaftler Viktor Schirmunski betrachtete die deutschen Dialekte in der UdSSR als eine Art linguistisches Labor von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Wie hat die Auswanderung der Russlanddeutschen die Überlebenschancen ihrer Dialekte beeinflusst? Haben sie in Deutschland mehr Chancen, sich zu erhalten, oder gehen sie unter?
Die deutschen Dialekte in der Sowjetunion waren tatsächlich ein einzigartiges linguistisches Labor, denn darin hatten sich Sprachphänomene konserviert, die in Deutschland wegen des Vormarsches des Hochdeutschen allmählich verloren gegangen waren. Mit der Rückkehr der Russlanddeutschen in ihre historische Heimat können sich ihre Dialekte gewissermaßen veredeln, indem sie sich von den zahlreichen lästigen Entlehnungen aus der russischen Sprache befreien. Die nächste Etappe dieser Entwicklung könnte der schrittweise Übergang zum Hochdeutsch sein. Was das Überleben der jeweiligen Mundart der Russlanddeutschen hierzulande betrifft, sehe ich dazu keine Notwendigkeit.
Die Dialekte der Russlanddeutschen sind vor allem für die allgemeine Sprachkunde und die Sprachforscher interessant, die sich mit den Prozessen der Sprachentwicklung befassen.
Das Ziel der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ist jedoch die Integration in der neuen Heimat, in erster Reihe ihre sprachliche Eingliederung.
Während meiner Recherchen für das Buch habe ich viele meiner Landsleute besucht und festgestellt, dass bei den Aussiedlern, die eine Mundart beherrschen, die Integration weniger schmerzvoll verläuft als bei den Landsleuten, die weder eine Mundart noch Hochdeutsch können. Was die Kinder aus den Aussiedlerfamilien betrifft, so erlernen sie in Kindergarten und Schule problemlos Hochdeutsch und passen sich ganz schnell der örtlichen Bevölkerung an.
Interessieren sich die deutschen Germanisten für die Mundarten der Russlanddeutschen? Gibt es Studien zu diesem Thema?
Wie ich bereits erwähnt habe, fand in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre eine intensive Erforschung der deutschen Dialekte in der Wolgadeutschen Republik statt. Die deutschen Dialektologen waren sehr interessiert an den Forschungen ihrer sowjetischen Kollegen zu den deutschen Mundarten im Wolga- und im Schwarzmeergebiet.
Zu dieser Zeit beschäftigten sich deutsche Sprachforscher unter Leitung von Professor Ferdinand Wrede von der Marburger Universität mit der Erstellung eines „Deutschen Sprachatlas`“. Sie baten Professor Dinges, den „Wolgadeutschen Sprachatlas“, der von ihm und seinen Schülern erarbeitet worden war, nach Marburg zu schicken. Dieser Atlas war bereits druckreif, ist aber aus unerklärlichen Gründen nicht erschienen, vermutlich in Zusammenhang mit Dinges` Verhaftung.
Der „Wolgadeutsche Sprachatlas“ konnte erst 1997 dank der Bemühungen von Professor Jedig und seiner Schülerin Nina Berend erscheinen. 1991 haben Nina Berend und Hugo Jedig in Marburg das Buch „Deutsche Dialekte in der Sowjetunion. Geschichte der Forschungen und Bibliographie“ herausgegeben, das akribisch alle Prozesse beschreibt, die sich auf die Erforschung der Dialekte in der ehemaligen Sowjetunion beziehen.
Wie viele Mundarten der Russlanddeutschen sind Ihnen bekannt?
In meinem Buch bin ich nur kurz auf die Besonderheiten folgender Dialekte eingegangen:
1) wolgadeutsche Mundarten (Oberhessisch, Südhessisch, Pfälzisch, Obersächsisch);
2) niederdeutsches Mennonitenplatt;
3) Schwäbisch;
4) Wolhynisch.
Selbstverständlich konnte ich nicht alle Aspekte der Mundarten der Russlanddeutschen erfassen. Das war auch nicht mein Ziel. Umso mehr, als es mit der Gründung immer neuer Tochterkolonien in verschiedenen Regionen des Russischen Reiches immer schwieriger wurde, die ursprünglichen Merkmale der Mutterkolonie-Mundarten auszugliedern, die unmittelbar aus den deutschen Provinzen mitgebracht worden waren. Bei meiner Auswahl von Mundarten habe ich mich genau daran orientiert.
Welche Mundart sprechen die meisten Russlanddeutschen?
Die Mehrheit der Russlanddeutschen, die noch eine Mundart können, spricht meiner Ansicht nach eines der rhein-fränkischen Dialekte - Hessisch oder Pfälzisch. Das sind die Nachkommen der wolgadeutschen und teilweise der schwarzmeerdeutschen Kolonisten, die sich auf den Ruf von Katharina II. auf den Weg nach Russland gemacht hatten. Danach kommen die Mennoniten, die niederdeutsche – niederfränkische - Mundarten sprechen, ihnen folgen die Schwaben, die aus den württembergischen Provinzen auswanderten, und die Wolhyniendeutschen, genauer gesagt aus dem Gebiet Schitomir und so weiter.
An wen wendet sich Ihr Buch?
Das Buch könnte für jeden interessant sein, der sich mit diesem Thema auseinandersetzen möchte. Von Anfang an wollte ich ein populärwissenschaftliches Buch schreiben, das komplizierte Entwicklungen in verständlicher Sprache erklärt. Deswegen habe ich mich bemüht, trockene Fakten, die in der Wissenschaftsliteratur üblich sind, zu vermeiden, sondern unterhaltsam, in einem Plauderstil zu erzählen. Eine Form, die ich jedem zumuten würde, der die deutsche Sprache gewissermaßen beherrscht. Wie ich schon erwähnt habe, es wurden zu dieser Thematik zwar zahlreiche Dissertationen verfasst, aber sie sind nur Wenigen zugänglich, meist jungen Wissenschaftlern, die linguistische Forschungen betreiben. Aber ich war schon immer davon überzeugt, dass die Geschichte der Mundarten der Russlanddeutschen auch eine breitere Leserschaft interessieren könnte, zumal hierzulande die Dialekte immer noch aus Tradition gepflegt und gesprochen werden. Das war die Motivation, dieses Buch zu schreiben und dadurch meine Landsleute der deutschen Öffentlichkeit näher zu bringen.
(Übersetzung: Nina Paulsen)
Interview: Nadja Runde
Zur Person
Viktor Heinz wurde im Dorf Nowoskatowka bei Omsk geboren, studierte deutsche Sprache und Literatur in Nowosibirsk, promovierte 1971 über das Thema »Oberhessische Dialekte in Omsk« und arbeitete als Dozent und Lehrstuhlleiter in Omsk und Petropawlowsk / Kasachstan, ab 1984 als Redakteur der Zeitung „Freundschaft“, heute „Deutsche Allgemeine Zeitung“ in Alma-Ata.
Dem dreiteiligen Stück »Auf den Wogen der Jahrhunderte« (1993) liegt die Geschichte und Gegenwart der Volksgruppe zugrunde. Mit dem Werk »In der Sackgasse« (1996) hat Heinz einen russlanddeutschen „Gesellschaftsroman“ geschaffen. Auch im Roman »Der brennende See« (2000) setzt er sich mit dem Thema ‚Persönlichkeit unter Parteidruck’ auseinander.
Das Buch »Zarte Radieschen und anderes Gemüse« (2002) befasst sich mit dem Leben der Landsleute in der neuen Heimat. 2003 erhielt Heinz für sein Gesamtwerk als Dichter und Dramatiker den Ehrenpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg.
Viktor Heinz,
Der eine spricht, der andre schwätzt, der dritte babbelt – Einiges über die Mundarten der Deutschen aus Russland
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Preis: 12,00 Euro