... Meine Mutter wurde in der Georgischen Stadt Tiflis 1918 in einer deutsch-litauischen Familie geboren. 1926 übersiedelte ihre Familie nach Deutschland, nach Breslau. 1939 heirateten meine Eltern. Mein Vater Georg war Deutscher. In der Familie wurde deutsch gesprochen, obwohl die Mutter auch litauisch sprechen konnte. Nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940 hat...
(oder das Schicksal eines Wolfskindes)
Ich, Manfred Herbert Szimmtenings, bin am 09.09.1941 in Breslau geboren.
Meine Mutter wurde in der Georgischen Stadt Tiflis 1918 in einer deutsch-litauischen Familie geboren. 1926 übersiedelte ihre Familie nach Deutschland, nach Breslau. 1939 heirateten meine Eltern. Mein Vater Georg war Deutscher. In der Familie wurde deutsch gesprochen, obwohl die Mutter auch litauisch sprechen konnte. Nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940 hat das III. Reich im Zeitraum 1940 - März 1941 die Deutschen aus Litauen nach beidseitiger Vereinbarung nach Deutschland geholt. Auch unsere Familie (Vater, Mutter und die Schwester Ingrid) hat zu dieser Zeit nach Deutschland (Breslau) gewechselt. Das genaue Datum weiß ich nicht. Dort bin ich auch als „Spätaussiedler“ geboren worden, wie es später von den Bürokraten in beiden deutschen Landen dargestellt wurde, ja sogar versucht wurde für mich diesen Nonsens glaub- und schmackhaft zu machen.
Danach ist meine Familie nach Leipzig umgezogen, wo ich bis Frühjahr 1946 lebte. Im Frühjahr dieses Jahres ist mein Vater unter mir unbekannten Umständen gestorben. Nach Vaters Tod ist meine Mutter als in Georgien Geborene und wir, Kinder, von der Besatzungsmacht in die Sowjetunion "repatriiert" worden. Wie mir Mutter erzählte, soll der Grund der Deportation auch die Mitgliedschaft des Vaters zur Nationalsozialistischen Partei gewesen sein. Ich persönlich kann das weder bestätigen noch verneinen. Man hat uns in Viehwaggons gesteckt und als wir durch Litauen fuhren, floh meine Mutter mit uns aus dem Zug. In Litauen lebte auch meine Großmutter und Verwandte, auf deren Unterstützung die Mutter baute.
Meine Großmutter lebte in einem der Dörfer Litauens. In Litauen hielt sich die Mutter illegal auf und musste sich vor den NKWD-Behörden verstecken. Der einzige Ort, wo sich die Mutter geborgen fühlte, war der Wald, wo die Waldbrüder (Partisanen) hausten. Sie kämpften für Litauens Unabhängigkeit. Mein Onkel ist für die Zugehörigkeit zu den Waldbrüdern erschossen worden, die Großmutter und die übrigen Verwandten sind als Volksfeinde nach Sibirien verbannt worden. Im Sommer 1947 ist meine Mutter im Kaunas verhaftet worden. Ihr ist Spionage und antisowjetische Agitation vorgeworfen worden. Also §58. 1 des Strafgesetzbuches der UdSSR. Zuerst wurde sie von der damals in der Sowjetunion berüchtigten "Trojka" zum Tode verurteilt, aber später begnadigt und zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihre Strafe verbüßte sie in den Wäldern der ASSR Komi als Holzfällerin, was sie 8 Jahre lang machen musste. 1953, nach dem Tod des Diktators ist sie amnestiert worden, die Entlassung aus dem Strafort erfolgte jedoch erst 1955, im August.
Sie zog in die Kasachische SSR, Stadt Gurjew zu ihren Verwandten, die 1940 aus Litauen nach Kasachstan vertrieben wurden. Die Entlassung aus dem Straflager erfolgte mit Verbot, sich im europäischen Teil der UdSSR anzusiedeln.
Im Sommer 1946 kam meine Schwester ins Kinderheim Nr. 2 der Stadt Kaunas. Ich aber, auf mich selbst angewiesen, und um nicht vor Hunger zu sterben, bettelte. Litauisch sprach ich nicht, nur deutsch. Wie ich damals lebte, ist sich heute nur schwer sich vorzustellen.
1948 wurde ich von der Militz aufgegriffen und im Kinderheim Nr.5 in Kaunas untergebracht. Wegen meiner deutschen Abstammung wurde ich gehänselt und gehasst. Keiner wollte mich als Spielkameraden haben.
Aber die Zeit heilt alle Wunden. Allmählich habe ich die litauische Sprache gelernt, aber dadurch geriet meine deutsche Muttersprache immer mehr in Vergessenheit.
Ich erinnere mich, wie sehr ich mich jedes Mal auf den Frühling freute, da ich mich dann zusätzlich mit Beeren und Früchten ernähren konnte. Nach der Schwester Ingrid habe ich immer Sehnsucht gehabt, aber zusammenkommen konnten wir nicht. Von den Leitungen der Kinderheime ist unsere Zusammenkunft stetig verhindert worden.
So konnten wir uns erst nach 22 Jahren (nach der Trennung 1946) treffen.
Im Kinderheim Nr. 5 war ich bis 1952. Von dort bin ich in das Kinderheim Nr. 1 der Stadt Alytus versetzt worden. Dort besuchte ich die Mittelschule, wo Englisch als Fremdsprache unterrichtet wurde. So habe ich die deutsche Sprache völlig vergessen und bin sozusagen Litauer geworden. Aber die Erinnerungen an die Leipziger Kindheit ließen mich nicht los. Ich erinnerte mich an Möckern, an die Knopstraße 6, wo wir wohnten, an die Leckereien, die uns die Amerikaner gaben.
Weil ich faktisch Vollwaisenkind war, wollte man mich aus dem Kinderheim auf die Militärfachschule abgeben. Es war aber nicht mein Wunsch. Ich wollte nicht mein Leben dem Militärdienst widmen und es ist mir gelungen die Suworow-Militärschule zu vermeiden.
Ich sehnte mich nach der Mutter. Sie verbüßte ihre Strafe in Kasachstan in Gurjew. Die Kinderheimdirektorin ermöglichte mir die Reise dorthin. Ich war damals 15 Jahre alt. Aber die Behörden in Guriev haben mich aufgefordert binnen 72 Stunden die Stadt zu verlassen ohne die Mutter sehen zu dürfen. In Kaunas wurde ich in einer Tischlerfachschule untergebracht. Dort erlernte ich das Tischlerhandwerk und absolvierte gleichzeitig im 1957 die 8. Klasse der Abendschule. 1958 ging ich zur Werft „Baltika“, wo ich in der Tischlerei arbeitete und gleichzeitig das Abendgymnasium besuchte und die 9. Klasse beendigte. Zu dieser Zeit sind viele Deutsche aus dem Klaipedaer Land, die vor 1939 geboren waren, nach Deutschland gegangen. Ich wollte auch in die deutsche Heimat, aber ich konnte nicht. Ich ging zu meiner Tante (Mutters Schwester) nach Kaunas. Aber in Kaunas entstanden Anmeldungsschwierigkeiten, weil ich u. a. keinen Pass hatte. Aber ohne Anmeldung fand ich keine Arbeit, so dass ich 8 Monate unangemeldet lebte. Die Tante und ihre Familie konnten mir auch nicht helfen, sie waren arm. Nur durch einen glücklichen Zufall - ich half beim Umzug einem Mann, und er war in der Staatsanwaltschaft tätig, bin ich doch in der Stadt Kaunas angemeldet worden. Das war aber gar nicht leicht. Zum Anmelden war eine 16 m² Wohnfläche erforderlich. Mit Hilfe der Tante haben wir diese Fläche gefunden, wo ich auch angemeldet wurde. Den Leuten, und vor allem dem Staatsanwalt bin ich bis heute grenzenlos dankbar. Wenn sie mir nicht geholfen hätten, wäre ich damals zum Dieb und Verbrecher geworden.
1960 also habe ich in demselben Werk, wo meine Mutter bis 1939 gearbeitet hatte, Arbeit gefunden. In demselben Jahr habe ich ein Mädchen kennen gelernt, die stammte aus einer deutschen Familie und hieß Ingrid. Im Dezember 1960 heirateten wir. Auf Ratschlag meiner Schwiegermutter habe ich und meine Schwester anfangen die Beweise unserer deutschen Abstammung zu suchen. Ich schrieb nach Hamburg an das Deutsche Rote Kreuz, nach Leipzig, bekam aber negative formelle Antworten. Ich habe auch die bundesdeutsche Botschaft in Moskau angeschrieben, erhielt aber keine konkreten Antworten.
Erst 1997 erhielt meine Schwester ein Schreiben aus Lübeck, worin ihre deutsche Abstammung bestätigt wurde. Auf Grund dieser Bestätigung wurde mir und meiner Schwester 1997 die deutsche Bürgerschaft zuerkannt, obwohl wir in Deutschland geboren sind und logischerweise seit unserer Geburt deutsche Bürger waren.
...Aber laut dem Schreiben aus Lübeck durfte ich nicht nach Deutschland als deutscher Bürger übersiedeln, angeblich weil ich nicht vor Frühling 1941 in Breslau geboren wurde.
1962 haben meine Ehefrau Ingrid, als in Thüringen geborene Deutsche und ich als Litauer, eine Einladung zur Aufnahme in die Bundesrepublik bekommen. Aber die Ausreise aus der Sowjetunion wurde von den Sowjetbehörden verhindert.
1964 haben wir erneut eine Einladung bekommen, daraus ist ebenfalls nichts geworden.
1965 hat meine Ehefrau den deutschen Ausweis bekommen und wir dachten, dass uns jetzt nichts mehr im Wege steht. Aber es erfolgte wieder von sowjetischer Seite eine Absage mit der Begründung, ich sei Litauer und angeblich in Kaunas geboren. Auch die deutschen Ämter haben nichts getan, um meine Abstammung und Nationalität zu bestätigen.
1962 habe ich die Abendschule absolviert und bin an die Hochschule für Leichtindustrie der Stadt Kaunas gegangen. Kurz danach bin ich von den KGB-Organen gewarnt worden: Sollte ich mit meiner Frau nach Deutschland reisen wollen, werde ich aus der Hochschule exmatrikuliert. Die ständigen KGB-Drohungen (wegen der deutschen Abstammung meiner Frau) haben mich wenig beeindruckt und um die Ehe zu erhalten, habe ich das Studium abgebrochen.
1965 kam unsere Tochter Irma zur Welt.
1965 habe ich die Arbeit im Kunstfaserwerk angefangen. Meine Namensschreibweise wurde litauisch geprägt – Schimtininkas, wo mein richtiger deutscher Name doch Szimmtenings war. Der Schriftverkehr mit den deutschen Ämtern scheiterte an dem Unterschied der Namensschreibweise.
Noch 1961 schrieb ich nach Deutschland, ob man meine Leipziger Wurzeln finden könnte. Habe aber eine negative Antwort bekommen. Wohin ich auch schrieb, sowohl nach Ost- als auch nach Westdeutschland, ich bekam nur negative Antworten.
Ab 1978 war ich in der Reparatur-Bau-Verwaltung Nr. 5 tätig. Egal wo ich tätig war, ich wollte schon immer in meine deutsche Heimat übersiedeln, bekam aber von deutschen Behörden keine positiven Antworten.
1997 habe ich an den Bundespräsidenten ein Schreiben gerichtet. Die Antwort war: Ich darf nicht nach Deutschland übersiedeln, weil ich keine Beweise meiner deutschen Abstammung, außer der Sterbeurkunde meines Vaters aus Leipzig, habe.
Meine Tochter Irma hat auch 1996 einen Aufnahmeantrag gestellt, hat aber 2002 eine Ablehnung bekommen. Der Grund der Ablehnung war, daß ihre Eltern, das heißt, ich und meine Frau, in Deutschland angeblich rechtswidrig lebten. Zu dieser Zeit war ich schon Rentner.
Nach Deutschland bin ich 2000 auf Grund der Einladung von 1964 gekommen. Das Aufnahmelager war Friedland.
Aber als ich 2000 nach Leipzig kam, und den deutschen Ausweis erhielt, habe ich vom Dezenat I „Standesamt Sterbefälle“ ein Schreiben erhalten, laut dem ich mit meiner Schwester Ingrid beim Vater angemeldet waren. Der Name war zwar fehlerhaft geschrieben, wurde aber später korrigiert. Das Geburtsdatum war auch nicht korrekt.
Aber nach einem Jahr, im Februar 2001, bekam meine Schwester aus Friedland ein Schreiben, dass ich nach Deutschland nicht darf, weil ich keinen Aufnahmebescheid habe und mich sprachmäßig in Wilnius nicht testieren ließ. Offensichtlich betrachteten mich die deutschen Behörden in Friedland als einen Spätaussiedler, obwohl ich seit meinen Geburt nicht nur Deutscher bin, sonder auch deutscher Bürger und zu dieser Zeit schon meinen Rentenantrag in Deutschland gestellt hatte.
Ich habe 1961, 1962 auch das Deutsche Rote Kreuz in Hamburg angeschrieben. Die Antwort war: Wir haben keine Verwandten in Deutschland. Aber in Jahre 2005 hat es sich herausgestellt, dass ich zwei Brüder und zwei Schwestern aus Vaters erster Ehe habe. Die Kinder von den Geschwistern haben das zufällig aus dem Telefonbuch erfahren.
Es drängt sich der Gedanke auf, dass die für den Suchdienst zuständigen Ämter ihren Pflichten formal nachgingen. Und diese Formalität verhinderte unsere Zusammenkunft als Verwandte.
Ich bin, sogar nach allen bürokratischen Vorschriften, kein Aussiedler. Schon in Deutschland lebend, schrieb ich dutzende Briefe an Behörden, angefangen von den unteren Eingliederungsbehörden bis zum Bundesverwaltungsamt und dessen Präsidenten, um meinen Status als ein Jahtzehnte lang der Heimat, der Sprache, der Kindheit und der Eltern beraubter Deutscher anerkannt zu werden. Letztendlich redete man sich heraus: Solche wie ich gebe es 4 Millionen...