Jedes Mal, wenn ich in den Ferien zu meiner Oma ins Dorf kam, durfte ich in ihrem alten Holzbett schlafen. Sie schüttelte die Strohmatratze auf, deckte mich mit dem Federbett zu, so dass ihre Enkelin es weich und warm hatte. Vor dem Einschlafen sah ich immer lange auf ein großes Foto, das immer am selben Platz an der Wand hing. Ich sah einen jungen Mann in einem dunklen Anzug, einem weißen Hemd mit Stehkragen und einer Fliege. Seine Haare waren zurückgekämmt,..
Jedes Mal, wenn ich in den Ferien zu meiner Oma ins Dorf kam, durfte ich in ihrem alten Holzbett schlafen. Sie schüttelte die Strohmatratze auf, deckte mich mit dem Federbett zu, so dass ihre Enkelin es weich und warm hatte. Vor dem Einschlafen sah ich immer lange auf ein großes Foto, das immer am selben Platz an der Wand hing. Ich sah einen jungen Mann in einem dunklen Anzug, einem weißen Hemd mit Stehkragen und einer Fliege. Seine Haare waren zurückgekämmt, er trug einen kleinen Schnurrbart und hatte sehr weiche Gesichtszüge. Besonders zogen mich seine Augen an. Sie waren weit in die Ferne gerichtet und schienen zu ahnen, welches Schicksal ihn erwartet. Eines Tages hat man mir gesagt, dass der Mann auf dem Foto mein Opa sei, aber nichts mehr. In jenen Jahren bewahrten alle ein seltsames, meinem Kinderverstand unbegreifliches Schweigen. Um so gespannter betrachtete ich die geheimnisvolle Gestalt, in der ich jedes Mal etwas Neues für mich entdeckte.
(Gewidmet meinem Großvater und vielen, vielen seiner Altersgenossen,
die dasselbe Schicksal erleiden mussten)
1956. Wir wurden von der Kommandaturaufsicht befreit. Es schien, als seien die Menschen plötzlich aus einer Erstarrung erwacht. Die großen, schönen Augen meiner Großmutter bekamen einen eigenartigen, nervösen Glanz, der die ewige tiefe Trauer ein wenig gelöscht hatte. Auf einmal sprach man im Haus sehr viel über den Großvater. Man erinnerte sich, wie meine Mutter als fünfjähriges Mädchen zum erstenmal ihren Vater sah (1926 kehrte er zu seiner Frau und seiner Tochter aus Deutschland zurück, wo er mit seinen Geschwistern und Eltern lebte.). Die Mutter erzählte, dass sie Opas Kleidung verwirrte, denn sein dreiteiliger Anzug war für das Dorf etwas unge-wöhnlich. Sie erzählte auch wie gutherzig und zur gleichen Zeit streng er war und wie er im Winter 1937 unerwartet verhaftet wurde. Die Gespräche ver-stummen nur dann, wenn abermals ein Brief an die Instanzen geschrieben wurde mit der Bitte, Opas Schicksal zu klären. Alle hegten die heimliche Hoffnung, dass er vielleicht doch am Leben sei. Endlich kam eine Nachricht vom KGB: „Werte Frau Holz, auf Ihre Anfrage teilen wir mit, dass Ihr Gatte Martin Holz am 30. April 1943 in der Haftanstalt infolge einer Gehirnblutung gestorben ist.“
So erlosch die letzte Hoffnung. Meine Oma wurde noch schweigsamer und ernster.
Wie immer brachte man mich jeden Sommer ins Dorf zu meiner Oma. Das bedeutete für mich – auch zu Opa. Mit den Jahren fühlte ich immer stärker seine ständige Gegenwart in meinem Leben. Er unterstützte mich, gab mir Kraft, belehrte mich, hütete mich vor schlechtem Benehmen.
Eines Tages, nach vielen Jahren, nahm mich ein älterer Mann mit seinem Auto in Omas Dorf mit. Wir kamen ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass er meine Verwandtschaft ganz gut kannte. „Ich kannte Deinen Opa. Als er verhaftet wurde, war ich noch ganz jung. Dein Großvater hat mir vor der Verhaftung die Kolchoskasse übergeben. Die Kasse war fast ganz leer, aber der alte Holz war ein sehr disziplinierter und verantwortungsvoller Mensch und erwartete dasselbe auch von anderen.
Weißt, bei uns erzählt man bis heute noch folgende Geschichte: Do kommt mol der Käschtelbaschkir (Hausierer) in unser Dorf. Viel Klonichkeite hat er gebrocht: Fischhoge, Nähmaschinennodel, Seidebändl, Stecknodel, Pfeifelein for d’Kinner, Seif, alles was ma so in de Wertschaft brauch. Des hat er alles uff unser Produkte gwechselt. Der alte Holz isch beikomme un frogt, ob der Käschtelbaschkir Zwern hätt. ‚Juk’, nee also, baschkirisch. ‚Na gut, – sagt der Holz, – ich bezahl dir jetzt, un du bringscht mirs andre mol’. Der Käschtelbaschkir hats’m versproche, un so soll er bis heit den Zwern bringe. Bis heit sagt ma zu em Menschen, der zu arch vertraut: er isch wie der alt Holz.“
Das erzählte mir der alte Seifried über den alten Holz. Der „alte“. Weil es fast in jeder Familie in unserem Dorf auch den „jungen“ gibt, der den gleichen Vornamen trägt wie sein Vater. Zum Andenken an unseren Opa hat den Vornamen Martin auch sein einziger Sohn erhalten und sein Enkel. Ge-nauso stellt man den Menschen vor: „Das ist Martin, des alten Martin Sohn.“
Viele Jahre sind inzwischen verflossen. Viele „Alte“ sind nicht mehr am Leben, wie der alte Seifried, der mir das alles erzählt hat. Meine schöne und starke Oma musste sterben, ohne die Wahrheit über ihren leidgeprüften Mann zu erfahren.
Ich habe die Wahrheit durch ein Schreiben vom KGB erfahren. Dort stand: „Ihr Großvater, Holz Martin Martinowitsch, geb. 1897, Deutscher, Parteiloser, wurde am 19.12.1937 vom NKWD unter falscher Anschuldigung konterrevolutionärer Tätigkeit verhaftet. Am 3. Mai 1938 wurde er aufgrund der Verordnung der Kommission des NKWD und des Staatsanwaltes der UdSSR gemäß Artikel 58, Punkt 10, 11 des Gesetzbuches der RSFSR zur Höchststrafe – zur Todesstrafe durch Erschießen ohne Konfiskation des Vermögens verurteilt. Das Todesurteil wurde am 15. Juni 1938 vollstreckt. Der Beschluss des Staatsanwaltes vom 03.05.1938 wird widerrufen. Holz M. M. ist rehabilitiert.“ Das Standesamt stellte eine Sterbeurkunde aus. Die Todesursache lautet: Erschießung, wie bei weiteren 18 Mann aus dem Hei-matdorf meiner Oma.
Heute hängt eine Kopie jenes Fotos vom Opa über meinem Bett in der alten neuen Heimat – Deutschland.
Anna GAUß