Elisabeth Kuhlmann lebte ihr ganzes kurzes Leben zusammen mit Ihrer Mutter auf der Wassiljewski Insel in Sankt-Petersburg. Sie lebten in großer Armut. Ihr Vater – Boris Fjodorowitsch Kuhlmann war Major, dessen Vorfahren aus Elsaß stammten. Er starb früh. Ihre älteren Brüder waren bei der Armee und leisteten ihren Wehrdienst weit vom Elternhause entfernt. Elisabeths ältere Schwester lebte mit ihrem Ehemann in Perm.
Die hervorragenden poetischen Fähigkeiten des kleinen Mädchens entdeckte der Freund ihres Vaters – Karl Friedrich Großheinrich, der Kinder aus aristokratischen Familien von Peterburg unterrichtete. Seine ganze Freizeit widmete er der Bildung von Elisabeth, die keine anderen Lehrer hatte. Als ihm klar wurde, dass die Dichtkunst Elisabeths Berufung ist, entschied er das Mädchen in Fremdsprachen und ausländischer Literatur zu unterrichten. Durch seinen Bekannten in Weimar übergab Karl Friedrich Großheinrich die Gedichte der 12–jährigen Dichterin zur Begutachtung dem großen Goethe, der im Antwortschreiben resümierte: „Richten Sie der jungen Dichterin aus, dass ich ihr in Zukunft eine bedeutende Stelle in der Literatur prophezeie, ganz gleich in welcher der bekannten Sprachen sie auch schreiben sollte.“
Elisabeth dichtete nicht nur in ihren Lieblingssprachen Deutsch, Russisch und Italienisch, sondern machte Nachdichtungen aus vielen anderen Sprachen. Denn sie beherrschte auch Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Neugriechisch. Außer diesen Sprachen verstand sie Latein, Altslawisch und Altgriechisch.
Die Verse der jungen Dichterin erregten den großen Schumann derart, dass er etliche ihrer Gedichte vertonte, die unter op.104 „Sieben Lieder von Elisabeth Kulmann zur Erinnerung an die Dichterin“ bekannt sind. Es bleibt nur zu ahnen, wie bedeutend der Nachlass der Poetin hätte sein können.
Doch setzte eine heimtückische Krankheit nach fünf Jahren dem irdischen Leben von Elisabeth Kulmann ein jähres Ende.
Das schöpferische Erbe der 17–jährigen E. Kuhlmann, das K. F. Großheinrich nach ihrem Tod herausgab, ist sehr umfangreich.
Es schließt poetische Werke verschiedener Genres in mehreren Sprachen ein. Die innere Welt der Dichterin jedoch, ihr Geist widerspiegelt sich am trefflichsten in ihren Gedichten, die sie in ihrer Muttersprache geschrieben hat.
Meine Lebensart
In der ganzen Stadt ist keine
Hütte kleiner als die meine;
Für mich ist sie groß genug.
Noch viel kleiner ist mein Gärtchen,
Ich nur gehe durch sein Pförtchen;
Doch auch so ist's groß genug.
Zweimal setz' ich mich zu Tische,
Etwas Fleisch, Kohl, Grütze, Fische;
Hungrig ging ich nie zur Ruh.
Ja, im Sommer, ess' ich Beeren:
Him- und Erd- und Heidelbeeren,
Oft kommt eine Birn dazu.
Bisher hatt' ich stets zwei Kleider;
Viele Menschen haben, leider!
Eines nur, und das noch schwach.
Klagen wäre eine Sünde!
Arm ist nur der Lahme, Blinde,
Und die Waise ohne Dach.
Vertrauen auf Gott
Fürchten? Was soll ich fürchten?
Wall’ ich des Tags nicht unter
Dem veilchenblauen Himmel –
Dem Auge meines Gottes.
Dess Strahlenblick – die Sonne
Mich überall begleitet?
Ruh ich die Nacht nicht unter
Dem immerwachen Auge
Dess, der mit sanftem Blicke –
Dem Monde mich bewachet?
„Die Haare deines Hauptes
Hat er gezählt, und keines
Wird deinem Haupt`entfallen,
Bevor er ihm zu fallen
Gewinkt“, so sprach der Gottmensch.
Und fürchten soll` ich? Menschen?
Sie, die heut stolz einhergehen,
Und morgen leichter Staub sind,
Den jeder Wind verwehet?
1829
[Du nennst mich - armes Mädchen]
Du nennst mich - armes Mädchen;
Du irrst, ich bin nicht arm.
Entreiß dich, Neugier halber,
Einmal des Schlafes Arm,
Und schau' mein niedres Hüttchen,
Wenn sich die Sonne hold
Am Morgenhimmel hebet:
Sein Dach ist reines Gold!
Komm Abends, wann die Sonne
Bereits zum Meere sinkt,
Und sieh mein einzig Fenster,
Wie's von Topasen blinkt!
Die Natur und der Mensch
Es senkt das ganze Blumenheer
Im Herbst sich in die Erde nieder,
Doch bei des Lenzes Wiederkehr
Erscheint viel herrlicher es wieder,
Es senket sich die Sonn' in's Meer,
Stets wecken sie der Lerche Lieder;
Doch keiner, sinken wir in's Grab,
Nimmt uns des Todes Ketten ab.
Morgengebet
Lasst uns zusammen beten
Zu dem, der uns erschuf
Und dann uns fröhlich gehen
An unseren Beruf.
Versammeln wir uns alle
Und schließen einen Kreis,
Und flehen zu ihm, befolgend
Sein eigenes Geheiß.
Beshutz` uns Herr, auch heute,
Verleih` uns Speis und Trank,
Vernimm geneigten Ohres
Zu deiner Kinder Dank.
1819
An den Winter
Willkommen, lieber Winter,
Willkommen hier zu Land!
Wie reich du bist, mit Perlen
Spielst du, als wär' es Sand!
Den Hof, des Gartens Wege
Hast du damit bestreut;
Sie an der Bäume Zweige
Zu Tausenden gereiht.
Dein Odem, lieber Winter,
Ist kälter, doch gesund;
Den Sturm nur halt' im Zaume,
Sonst macht er es zu bunt!
Das Eichhorn
O allerliebstes Eichhorn!
Schon lang steh' ich vor deinem,
Dir unbequemen Käfig,
Und kann nicht satt mich sehen
An deinen raschen, holden
Bewegungen und Spielen.
Ich möchte gern dich streicheln,
Doch fürcht' ich deine Zähne,
So scharf, so fein, wie Nadeln.
Nicht ich fürwahr, o Eichhorn,
Hab' dich in dies Gefängnis
Gesperrt; ich säh' viel lieber
Dich auf den hohen Gipfeln
Der nahen Bäume hüpfen
Mit Vögeln in die Wette.
Ich möchte gern dein Nest sehn
Mit seinen bald geschloßnen,
Bald offnen Thüren, daß ja
Kein rauher Wind die zarten,
Noch unbedeckten Kinder
Mit kaltem Hauch berühre.
O glücklich Thier! Bewohner
Von zweien Elementen!
Die Erde beut zur Nahrung
Auf niedrigen Gesträuchen
Die Fülle dir der Früchte
Und klaren Thau auf Blättern;
Und deine Freuden findest
Du auf der Eiche Gipfel
Im hohen Reich der Lüfte.
Das Vergißmeinnicht
In feuchter Erde Schooße,
Im tiefsten öden Thal,
Sprieß' ich bei Westes Wehen
Und mildem Sonnenstrahl.
Das Veilchen selbst gesellet
Nie zu den Rosen sich;
Und ich erst? Selbst dem Veilchen
Nah' schüchtern nur ich mich.
Und doch verschönt mein Dasein
Der Freude sanftes Licht:
Mich herzen fromme Kinder,
Vergessen meiner nicht.
Mailied
Pflücket Rosen, um das Haar
Schön damit zu kränzen,
Reihe dich, o junge Schaar,
Dann zu frohen Tänzen!
Nehmt die Leier von der Wand,
Kränzet sie und gebet
Sie dem Sänger in die Hand,
Der sie uns belebet.
Freuet euch, so lang der Mai
Und der Sommer währet;
Nur zu bald sind sie vorbei,
Und der Winter kehret.
Lange müßt ihr dann auf's neu
Bei der Lampe sitzen,
Und bei ew'gem Einerlei
Saurer Arbeit schwitzen.
Die letzten Blumen starben
Die letzten Blumen starben!
Längst sank die Königin
Der warmen Sommermonde,
Die holde Rose hin!
Du, hehre Georgine,
Erhebst nicht mehr dein Haupt!
Selbst meine hohe Pappel
Sah ich schon halb entlaubt.
Bin ich doch weder Pappel,
Noch Rose, zart und schlank;
Warum soll ich nicht sinken,
Da selbst die Rose sank?
An ein Hündlein
Gern gab ich die drei Fünfer
Dem losen Buben hin.
Er trug, ich möchte schwören,
Noch ärgeres im Sinn.
Hier wird dich Niemand quälen,
Lässt jeder dich in Ruh;
Ja, trägt wohl gar, dich streichelnd,
Dir manchen Bissen zu.
Des Nachts, im Herbst und Winter,
Legst du dich nah am Herd
In dein bequemes Körbchen,
Und schlummerst ungestört.
Unsterblichkeit
O ja. Es wird zu neuem Leben
Der Mensch sich aus dem Grab erheben,
In dem selbst sein Gebein zerfällt,
Wie` s zugeht, kann ich nicht begreifen,
Seh` ich nicht aber Früchte reifen
Auf Baum, den Winterfrost entstellt?
1820
Die Seele
Ich bin ein Himmels-Echo,
Ein Widerschein der Gottheit,
Was Engel bei dem Anblick
Der Werke Gottes sprachen
Im ihrem Hochentzücken,
Das hall` ich nach, wie Echo,
In abgebrochnen Tönen,
Den Strahlenglanz der Gottheit,
Der Menschenaugen blendet,
Spiegl` ich euch ab gleich
Einem mit Rauch bedeckten Spiegel.
So kett` euch Erdbewohner
Ich an den hohen Himmel,
Dem ihr entstammt, zu dem ihr
Dereinst zurückekehret
Doch diese Himmelstöne,
Doch diese Himmelsbilder,
Sie gehen, trotz ihres Daseins
In euch, für euch erkoren
Leiht euer Ohr und Aug ihr
Nur irdischen Gelüsten.
1821
Russisches Bauerlied
Was schwatzt von andern Ländern
Ihr Tage lang mir vor!
Ich zieh' trotz euerm Lobe
Die liebe Heimath vor.
Die Schneezeit ausgenommen,
Ist hier es immer grün;
Oft sag' ich in Gedanken:
»Bald werden Veilchen blühn!«
In Welschland hör' ich immer,
Da ist es wunderschön! -
Doch Mädchen, schön wie unsre,
Sind schwerlich dort zu sehn.
Schwatzt mir von andern Ländern,
So viel ihr wollet, vor;
Ich zieh' trotz allem Lobe
Mein liebes Rußland vor!
Der Sonnenaufgang
Es schwingt die Nacht ihr dunkles
Gefieder und entweichet
Langsamen Flugs gen Norden.
Es zeigt in weißem Flor sich
Die Dämmrung in des Morgens
Geraumen Silberhallen,
Und weckt mit leisem Lispeln
Die Nachtigall. In festlich
Langsamem Ton beginnt sie
Ihr Lied zum Lob der Sonne;
Da naht im Purpurschleier
Die holde Morgenröthe,
Und streut die Fülle Rosen
Vom Morgenthor bis wo sich
Der Sonnenweg bemerkbar
In's Himmelblau erhebet.
Geendet hat ihr Loblied
Die Nachtigall; es tönet
Das laute Chor der Lerchen
Und andrer Sängerinnen,
Begleitet von Gesäusel
Des regen Laubs der Bäume....
Da sinken und verwandeln
Allmählig sich die weiten
Prachtvollen Säulenhallen
Des Morgenroths, und werden
Zu einem See von Purpur,
Wo Wellen gegen Wellen
Sich heben, sich bekämpfen,
Allmählig in einander
Verfließen, um auf's neu sich
Zu heben und zu kämpfen.
Doch seht! ein goldnes Meerschiff,
Geschmückt mit Strahlengarben,
Zertheilt die Purpurwogen
Mit herrscherischem Gange.
Es ist das Schiff der Sonne,
Der Königin des Weltalls.
Der Sonnenuntergang
Der Sonnenwagen nahet
Dem letzten Himmelsabhang,
An dessen Fuße plätschernd
Die Meereswellen tanzen.
Die Sonnenpferde strengen
Sich an, der nahen Kühlung
Sich freuend und der Ruhe.
Schon ist das Tagsgestirne
Dem Meer so nahe, daß es
Bereits sein Bild im Schooße
Der stillen Wellen siehet.
Es kommen stets einander
Die beiden Sonnen näher,
Zwei Königen vergleichbar
Mit ihrem Prachtgefolge,
Die froh, an ihrer Reiche
Gemeinschaftliche Gränze,
Wie Brüder sich einander
Entgegen gehn. Die Säume
Der glühendrothen Räder
Des müden Sonnenwagens
Berühren nun die Wellen,
Die zischend ihn umkreisen.
Seht! eine Silberbrücke
Schwimmt auf dem Meer, und führet
Die Sonne zu dem Schiffe,
Worin, tiefeingeschlummert,
Sie auf des breiten Weltstroms
Entlegenem Gewoge
Zum Morgenthor zurückfährt,
Um Sterblichen und Göttern
Den neuen Tag zu bringen.